Liebe und Verrat - 2
damit sagen?«
Ich seufze. »Ich glaube, sie kürzlich nachts hier gesehen zu haben. Hier, in Milthorpe Manor. Ich wachte mitten in der Nacht auf und sah jemanden auf der Treppe. Ich dachte, es sei Ruth oder eins der anderen Mädchen, aber als ich sie ansprach, drehte sich die Gestalt um und … nun, sie sah aus wie Alice.«
»Sie sah aus wie Alice?«
»Die Gestalt war undeutlich, nicht klar zu erkennen. Daher weiß ich auch, dass es kein wirklicher Körper war. Aber sie war es.« Ich nicke und bin mir mit einem Mal wieder ganz sicher. »Sie war es.«
Sonia steht auf und geht zum Fenster, von dem aus man auf die Straße vor dem Haus schauen kann. Sie schweigt lange Zeit. Als sie wieder spricht, liegen Ehrfurcht und Angst in ihrer Stimme.
»Also kann sie uns sehen. Und wahrscheinlich auch hören.«
Ich nicke, obwohl Sonia mir ihren Rücken zukehrt. »Ich denke schon.«
Sie dreht sich zu mir um. »Was heißt das für uns? In Bezug auf die fehlenden Seiten, meine ich.«
»Keine Schwester der Prophezeiung würde das Versteck der Seiten Alice verraten, jedenfalls nicht aus freiem Willen. Aber wenn sie in der Lage ist, unsere Fortschritte zu verfolgen, könnte sie vor uns ans Ziel kommen oder uns daran hindern, es unsererseits zu erreichen.«
»Aber sie kann nicht in diese Welt überwechseln, nicht körperlich, nicht ganz und gar. Und um uns auf normalem Weg zu folgen, müsste sie eine lange Reise unternehmen, von New York nach London. Das kostet Zeit.«
»Es sei denn, sie hat jemanden an der Hand, der diese Aufgabe für sie erledigt.«
Sonia schaut mich an.
»Aber was können wir tun, Lia? Wie können wir sie davon abhalten, an die Seiten zu gelangen, wenn sie aus dieser Entfernung jede unserer Bewegungen mitverfolgen kann?«
Ich zucke mit den Schultern. Die Antwort ist ganz einfach.
»Wir müssen vor ihr da sein.«
Ich hoffe, Sonia merkt nicht, dass meine Worte stärker sind als meine Überzeugung, denn die Vorstellung, dass ich schon bald meiner Schwester wieder gegenüberstehen könnte, beunruhigt mich zutiefst.
Die Erkenntnis, dass Alice sich auf diese Konfrontation vorbereitet, dass sie den Verlauf der Prophezeiung beschleunigen will, erweckt in mir eine düstere Vorahnung. Angesichts der erstarkten Macht meiner Schwester kommen mir meine eigenen Fähigkeiten jämmerlich vor. Aber sie sind alles, was ich habe.
5
Sonia und ich sitzen auf der kleinen Terrasse an der Rückseite von Milthorpe Manor. Der Garten ist nicht zu vergleichen mit den ausgedehnten Feldern von Birchwood und auch keinesfalls so still und friedlich, aber das üppige Grün und die herrlichen Blumen ringsum machen aus der Terrasse ein Stück Paradies inmitten des Trubels und des Drecks von London. Wir haben nebeneinander in bequemen Liegestühlen Platz genommen und unsere Gesichter mit geschlossenen Augen der Sonne zugewandt.
»Soll ich uns einen Sonnenschirm holen?«, fragt Sonia, die sich vermutlich gerade daran erinnert, was sittsam und angemessen wäre. Aber ihre Stimme klingt träge, und ich weiß, dass es sie eigentlich nicht kümmert, ob wir unsere Haut vor der Sonne schützen oder nicht.
Mit geschlossenen Augen antworte ich: »Ach, lass doch. Die englische Sonne scheint selten genug. Ich werde mich jedenfalls nicht von ihrer Wärme abwenden.«
Der Liegestuhl neben mir knarrt. Sonia hat sich anscheinend zu mir umgedreht. In ihren nächsten Worten höre ich Gelächter mitklingen. »Die porzellanhäutigen Londoner Mädchen ziehen bestimmt an einem solchen Tag alle Vorhänge zu.«
Ich hebe den Kopf und beschatte die Augen mit der Hand. »Tja, ganz wie sie wollen. Ich bin so froh, dass ich keine von ihnen bin.«
Sonias Lachen gleitet auf der Brise durch den Garten. »Ich auch!«
Wir drehen uns beide gleichzeitig um, als aus dem Haus laute Worte und Rufe nach draußen dringen. Es hört sich fast wie ein Streit an, obwohl ich noch nie gehört habe, dass auch nur einer der Dienstboten die Stimme erhoben hätte.
»Was ist denn da …?« Sonia bleibt keine Zeit mehr, ihre Frage auszusprechen, denn plötzlich erklingen hastige Schritte und der Streit rückt hörbar näher. Fragend und beunruhigt schauen wir uns an und erheben uns. Empörte Stimmen werden laut.
»… das ist doch lächerlich. Sie müssen uns nicht …«
»Herrgott noch mal, lassen Sie …«
Eine junge Frau biegt mit großen Schritten um die Ecke, Ruth dicht auf ihren Fersen. »Es tut mir leid, Miss. Ich habe versucht, ihr zu sagen …«
»Und ich habe
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