Liebe und Verrat - 2
versucht, ihr zu sagen, dass es nicht nötig ist, uns wie Fremde anzumelden!«
»Luisa?« Aber es gibt keinen Zweifel: Sie ist es – die Adlernase, das glänzende dunkelbraune Haar, die vollen roten Lippen – und doch kann ich nicht glauben, dass meine Freundin leibhaftig vor mir steht.
Sie gibt keine Antwort, denn hinter ihr tauchen zwei weitere Gestalten auf. Ich bin so verblüfft, dass mir die Worte fehlen. Glücklicherweise hat Sonia sich schneller gefasst.
»Virginia! Und … Edmund!«, ruft sie aus.
Ich stehe einen Moment lang bloß da, will warten, bis ich mir sicher bin, dass dies kein Traum, sondern Wirklichkeit ist. Edmunds Lächeln ist nur ein Abglanz des Lächelns, das er Henry immer geschenkt hat, aber es ist genug. Es ist genug, um mich aus meiner Starre zu reißen.
Und dann fangen Sonia und ich vor lauter Freude an zu kreischen und rennen auf sie zu.
Nachdem wir eine erregte und lautstarke Begrüßung hinter uns gebracht haben, machen es sich Tante Virginia und Luisa mit Sonia und mir im Salon gemütlich, während sich Edmund um das Gepäck kümmert. Ich lasse Tee und Kekse kommen, obwohl das Gebäck unserer Köchin berüchtigt dafür ist, schon den einen oder anderen Zahn gekostet zu haben. Ich zucke zusammen, als Tante Virginia in die steinharten Kekse beißt.
»Ein bisschen trocken, nicht wahr?«, sage ich zu Tante Virginia.
Sie kaut eine Weile und quält dann mit einem vernehmlichen Schlucken die staubigen und harten Krümel des Kekses durch ihre Speiseröhre. »Ein bisschen.«
Luisa nimmt sich einen. Mir ist klar, dass ich sie nicht zu warnen brauche: Nur ihre eigene Erfahrung ist in der Lage, Luisa von etwas zu überzeugen.
Laut knirschend beißt sie in den Keks, aber das Stück bleibt nur eine Sekunde in ihrem Mund. Dann spuckt sie es in ihr Taschentuch. »Ein bisschen? Ich glaube, ich habe mir einen Zahn ausgebissen! Wer hat diese kulinarische Unverschämtheit zu verantworten?«
Sonia lacht hinter vorgehaltener Hand, aber ich kann mich nicht bremsen und breche in lautes Gelächter aus. »Pst! Unsere Köchin backt diese Dinger. Bitte nicht so laut. Ansonsten verletzt du ihre Gefühle.«
Luisa strafft die Schultern. »Besser ihre Gefühle als unsere Zähne!«
Ich bemühe mich um eine tadelnde Miene, was mir völlig misslingt. »Ach, ihr beide habt mir ja so gefehlt! Wann seid ihr angekommen?«
Mit einem Klicken setzt Luisa ihre Teetasse ab. »Unser Schiff hat heute Morgen angelegt. Und es war auch höchste Zeit. Ich war fast während der ganzen Reise seekrank.«
Ich erinnere mich an die raue Überfahrt, die Sonia und ich durchlitten hatten. Mir wird nicht so leicht übel wie Luisa, aber auch ich war froh, als wir London erreichten, denn die Reise war alles andere als angenehm.
»Wir hätten euch am Kai abgeholt, wenn wir von eurem Kommen gewusst hätten«, sagt Sonia.
»Wir haben uns recht … kurzfristig entschieden«, sagt Tante Virginia. Es scheint, als ob sie ihre Worte sehr sorgfältig wählt.
»Aber warum?«, fragt Sonia. »Wir haben Luisa erst in ein paar Monaten erwartet und, nun ja …« Sonia verstummt. Sie will nicht unhöflich sein.
»Ja, ich weiß.« Auch Tante Virginia setzt ihre Tasse ab. »Ich weiß, dass ihr mich überhaupt nicht erwartet habt. Jedenfalls nicht in naher Zukunft.«
Etwas in ihren Augen versetzt mich in Unruhe. »Also, warum bist du gekommen, Tante Virginia? Ich meine, es freut mich ungemein, dich zu sehen. Aber …«
Sie nickt. »Du hast recht. Ich sagte dir, dass es meine Pflicht sei, bei Alice zu bleiben und mich um ihre Sicherheit zu kümmern, trotz ihrer Weigerung, ihre Rolle als Wächter zu akzeptieren.« Sie hält inne und starrt in eine Ecke. Ich habe das Gefühl, dass sie einen Augenblick lang nicht hier in London ist, sondern in Birchwood, wo sie etwas Seltsames und Unerfreuliches erlebt haben muss. Als sie wieder spricht, ist ihre Stimme leise, fast nur ein Murmeln, so als spräche sie zu sich selbst. »Ich muss zugeben, dass ich trotz allem, was geschehen ist, ein schlechtes Gewissen habe, weil ich sie allein ließ.«
Sonia wirft mir von ihrem Platz neben dem Kamin aus einen Blick zu, aber ich warte geduldig das Ende von Tante Virginias Schweigen ab. Ich habe es nicht eilig zu hören, was sie zu sagen hat.
Sie fängt meinen Blick ein und löst sich aus ihren Erinnerungen. »Alice ist … seltsam geworden. Ich weiß, dass sie schon seit Langem schwer einzuschätzen ist«, fügt sie hinzu, als sie meinen überraschten Blick sieht.
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