Liebe und Verrat - 2
Wesens fest. Das große Auge blinzelt einmal, und dann sinkt die Kreatur tiefer ins Wasser und zieht mich mit sich. Ich bin so entgeistert, dass ich weder schreie noch mich wehre, aber als mein Körper aus dem Boot gleitet, fange ich an, wild um mich zu schlagen und zu treten. Der Lärm, den ich dabei verursache, sorgt dafür, dass alle im Boot erschrocken aufspringen.
Aber es ist zu spät. Das Wesen ist stärker, als ich gedacht habe, und bereits nach einem einzigen Augenblick bin ich im Wasser. Das Letzte, was ich sehe, sind nicht Dimitris erschrockene und verwirrte Augen, sondern die gesichtslosen Gestalten an den Rudern, die inmitten des Chaos einfach reglos sitzen bleiben.
Es gelingt mir, einmal tief Luft zu holen, bevor ich unter Wasser gezogen werde. Anfangs kämpfe ich. Ich ziehe und zerre und versuche, meine Hand vom Hals der Kreatur loszureißen, aber schon nach kurzer Zeit erkenne ich die Nutzlosigkeit meiner Anstrengungen. Die Kreatur schwimmt nicht schnurgerade in die Tiefe, obwohl sie dazu gewiss in der Lage wäre. Sie lässt sich langsam nach unten sinken, als ob sie alle Zeit der Welt hätte. Das Tempo ist eine Tortur, denn mein Ende kommt nicht rasch. Nein. Ich habe Zeit, über meinen Tod nachzudenken.
Hier unter Wasser befinde ich mich in einer trüben Zwischenwelt aus schattenhaften Schemen und glitschigen Gegenständen, die gegen mich stoßen, und schon bald – zu bald – legt sich eine Apathie über mich, von der ich weiß, dass sie der Vorbote des Todes ist. Mein Körper schleift hinter dem massigen Leib der Kreatur, meine Hand immer noch fest mit ihrem Hals verbunden. Mein Kampfgeist verlässt mich abrupt. Ich werde schlaff und lasse mich einfach weiter und weiter in die eisigen Tiefen ziehen. Die Wahrheit ist, dass ich so müde bin. So unendlich müde. Und dies ist das zweite Mal, dass mir mein Leben im Wasser entgleitet.
Vielleicht ist es Schicksal. Vielleicht hat das Wasser das Recht, meine Seele einzufordern.
Das ist mein letzter Gedanke.
19
Es mag merkwürdig klingen, aber der Würgereiz ist das Schlimmste. Er bringt mich beinahe um.
Ich liege im Boot, spucke und huste Wasser aus meiner Lunge, bis meine Kehle ganz wund ist. Undeutlich nehme ich Gestalten wahr, irgendwo am Rand meines Blickfelds, aber allein Dimitris Gesicht – verzweifelt und voller Sorge – kann ich klar erkennen. Er beugt sich über mich und hält mich an der Schulter, während der niemals enden wollende Strom aus Meerwasser, der mich scheinbar bis zum Rand angefüllt hat, aus mir herausfließt.
Endlich lässt das Husten und Würgen nach, wenigstens für den Augenblick, und Dimitri nimmt mich in den Arm und zieht mich an seine nasse Brust.
»Es tut mir leid«, sage ich. Es gibt keinen Zweifel, dass ich allein die Schuld trage. Ich erinnere mich nicht an alles, aber die bizarre Kreatur, die mich ins Wasser gezogen hat, und meine eigene Naivität werde ich so schnell nicht vergessen.
Er schüttelt den Kopf und seine Stimme ist rau und schroff. »Ich hätte aufpassen müssen … ich hätte wachsamer sein müssen.«
Ich bin zu erledigt, um zu streiten. Ich schlinge meine Arme um ihn und drücke mich an seinen Körper.
Luisa kniet neben mir. So verängstigt habe ich sie noch nie gesehen. »Lia, ist alles in Ordnung? Ich habe tief und fest geschlafen, und plötzlich bist du kopfüber im Meer verschwunden!«
»Das war ein Kelpie«, sagt Dimitri, als wäre ein Kelpie das Selbstverständlichste auf der Welt und nicht ein Wesen aus Mythen und Legenden. »Vermutlich steht er im Dienst der Seelen, genauso wie die Hunde. Sie alle wollen verhindern, dass du Altus erreichst und die fehlenden Seiten an dich nimmst.«
Luisa kramt in ihrer Tasche herum. »Ihr zittert wie Espenlaub! Alle beide. Ihr holt euch noch den Tod!«
Trotz allem entgeht mir nicht die Ironie ihrer Bemerkung, und doch bin ich dankbar für die Decken, die sie aus ihrem und Edmunds Gepäck hervorzieht. Dimitri wickelt mich in eine und legt sich die andere um die Schultern. Dann lehnt er sich an die Bordwand und zieht mich an sich.
Luisa, die sich davon überzeugt hat, dass wir für den Moment gut versorgt sind, kehrt zu ihrem Platz zurück, ebenso wie Edmund, der sich neben Sonia setzt. Es sieht so aus, als hätte sie sich während des ganzen Tumults nicht gerührt. Aber es ist Edmund, von dem ich die Augen nicht abwenden kann. Etwas stimmt nicht mit seinem Gesicht. Er wirkt um Jahre gealtert. Seine Züge sind vor Angst und Schrecken ganz verzerrt.
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