Liebe und Verrat - 2
lachen.
Dimitri reibt sich mit der Handfläche übers Gesicht, entweder aus Erschöpfung oder weil er Luisa nicht merken lassen will, dass ihn ihre Bemerkung verärgert. »Glauben Sie mir, wir sind da. Wenn Sie einen Moment Geduld haben, werden Sie sehen, was ich meine.«
Luisa verschränkt in einem Anflug von Gereiztheit die Arme vor der Brust, aber Edmund folgt Dimitris Blick über das Wasser. Sonia dagegen bleibt völlig ungerührt. Sie sitzt bewegungslos da und scheint an nichts mehr Interesse zu haben.
Eine Bewegung erregt meine Aufmerksamkeit. Ich sehe, dass die verhüllte Gestalt, die vorne im Boot saß und ruderte, sich erhoben und dem Wasser zugewendet hat. Ich sehe, wie lange, schlanke Finger nach oben greifen. Und dann wird die Kapuze des Gewandes zurückgeschlagen und ich sehe eine Kaskade aus blondem Haar, so hell, dass es beinahe weiß erscheint. Es glänzt auf dem Rücken des Mädchens, das vorn im Bug steht. Denn jetzt kann ich sehen, dass es ein Mädchen ist, besser gesagt eine junge Frau.
Starr vor Staunen schaue ich zu, wie sie die Arme hebt. Die weiten Ärmel ihres Gewandes fallen zurück und enthüllen cremeweiße Arme. Eine merkwürdige Stille senkt sich über uns. Nicht einmal das Plätschern der Wellen an den Rumpf der Barke ist zu hören, und es scheint, als ob wir alle den Atem anhalten.
Und was als Nächstes geschieht, ist wahrhaft atemberaubend.
Das Mädchen murmelt etwas in einer Sprache, die ich noch nie zuvor gehört habe. Es klingt fast wie Lateinisch, aber selbst ich mit meinen armseligen Lateinkenntnissen merke, dass es eine andere Sprache ist. Ihre Stimme dringt durch den Nebel, schlängelt sich zwischen uns hindurch und fliegt dann über das Wasser. Ich höre ihre Worte, noch lange nachdem sie ihren Mund verlassen haben, aber nicht als Echo. Es ist etwas anderes. Wie eine Erinnerung. Sie fliegt hinauf und hinaus, bis sich der Nebel zu lichten beginnt. Es geschieht nicht plötzlich, aber doch unvermittelt genug, um erkennen zu lassen, dass es sich nicht um eine Laune der Natur handelt.
Das Wasser glitzert im Sonnenlicht, das gerade eben noch nicht da war. Der Himmel, zuvor ein trübes Grau, wenn man ihn überhaupt gesehen hat, schimmert über uns. Seine Farbe erinnert mich an den Herbst in New York. Es ist ein Blau, so intensiv und strahlend wie zu keiner anderen Jahreszeit.
Aber das ist es nicht, was mir den Atem stocken lässt.
Nein. Es ist die herrliche, üppige Insel, die vor uns liegt.
Sie funkelt im Wasser, ein Wunder an Schönheit und Klarheit. Ein kleiner Hafen wird nicht weit vor uns sichtbar und von seinem Ufer aus erhebt sich die Insel in einer sanften Steigung. Auf ihrem höchsten Punkt und in der Ferne kann ich Gebäude ausmachen, aber sie sind zu weit weg, um sie deutlich erkennen zu können.
Am Allerschönsten jedoch sind die Bäume. Selbst vom Wasser aus sehe ich, dass die Insel mit Apfelbäumen übersät ist. Die scharlachroten Früchte strahlen wie unzählige Ausrufezeichen in dem saftigen Grün der Bäume und des Grases, das die Insel bedeckt.
»Es … ist wunderbar.« Jedes Wort kommt mir zu klein vor, um den Anblick zu beschreiben, der sich mir bietet. Aber Worte sind alles, was ich habe.
Dimitri lächelt mir zu. »Ja, nicht wahr?« Er schaut voraus. »Ich bin jedes Mal wieder aufs Neue ergriffen.«
Ich wende mich zu ihm. »Ist die Insel Wirklichkeit?«
Er kichert. »Nun, du wirst sie auf keiner gewöhnlichen Landkarte finden, wenn du das meinst. Aber sie ist da, verborgen hinter dem Nebel, und ist die Heimstatt der Schwestern und der Grigori und all jener, die ihnen dienen.«
»Na, das würde ich mir gerne näher anschauen«, sagt Luisa.
Edmund nickt zustimmend. »Miss Milthorpe braucht Schlaf und Miss Sorrensen … nun, Miss Sorrensen braucht Hilfe.« Wir alle betrachten jetzt Sonia, die wütend auf Altus schaut. Edmund wechselt einen Blick mit Dimitri. »Je eher, desto besser.«
Dimitri neigt leicht den Kopf in Richtung der hellblonden Frau, die den Nebel um Altus vertrieben hat. Sie nimmt wieder ihren Platz ein und greift zu den Rudern. Ihre Gefährtin hinten im Boot tut es ihr gleich.
Ich setze mich ebenfalls und schaue dem Wasser zu, das unter dem Boot hinwegzieht. Näher und näher komme ich der Insel, die Antworten auf meine Fragen verspricht. Antworten auf Fragen, über die ich mir selbst noch nicht im Klaren bin.
20
Wir werden bereits erwartet, als wir aus dem Boot aussteigen. Am Anleger stehen Gestalten in dunkelroten Gewändern,
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