Liebe und Verrat - 2
ob ich der Grund für ihre Schwäche bin. Ich will die Antwort nicht hören. Will es nicht wissen. Und außerdem kann ich durch nichts ungeschehen machen, was sie getan hat. Es ist in jedem Fall klüger – und ihrem Opfer angemessener –, die Zeit auszunutzen, die uns noch bleibt.
»Ich danke dir, Tante Abigail. Aber was ist, wenn es nicht genug ist? Wenn deine Macht aus dem Stein sickert …? Was passiert, wenn ich meinerseits nicht genug Kraft aufbringe, um die Seelen in Schach zu halten, bis ich die Prophezeiung zu einem guten Ende bringen kann?«
Ihr Lächeln ist schwach, aber es ist klar und offen. Ich kann darin die Lebenskraft erkennen, mit der sie die Schwestern Jahrzehnte lang geführt hat. »Du bist stärker, als du glaubst, Kind. Es wird genug sein.«
Ihre Worte rühren an etwas in meiner Erinnerung. Ganz plötzlich bin ich wieder in Birchwood, an dem Morgen, an dem Tante Virginia mir den Brief gab, den meine Mutter kurz vor ihrem Freitod für mich geschrieben hatte. Du bist klüger, als du glaubst, Liebes. Und stärker, als du weißt , hat Tante Virginia gesagt.
Tante Abigail schließt kurz ihre Augen und öffnet sie dann wieder. Jetzt liegt eine fast flammende Eindringlichkeit in ihnen. »Du musst die Seiten holen.«
Ich nicke. »Sag mir, wo sie sind, und ich werde mit ihrer Hilfe die Prophezeiung beenden.«
Sie nimmt meine Hand fester. »Ich … kann es dir nicht sagen.«
Verwirrt schüttele ich den Kopf. »Aber … deswegen bin ich gekommen. Deswegen hast du mich rufen lassen. Weißt du nicht mehr, Tante Abigail?«
»Es ist nicht so, dass mich mein Gedächtnis im Stich lässt, Kind.«
Ich begreife immer noch nicht.
Tante Abigails Augen huschen durch den Raum, obwohl sie zu erschöpft ist, um ihren Kopf zu bewegen. Sie senkt ihre Stimme, sodass ich mich anstrengen muss, sie zu verstehen. »Das Heiligtum hat … viele Ohren. Einige von ihnen werden das Gehörte zum Wohl der Schwestern einsetzen. Andere zu ihrem eigenen Wohl.«
Ich schaue auf und sehe eine der Schwestern neben dem Fenster stehen und Bettlaken zusammenfalten. Ich weiß nicht, wohin die andere verschwunden ist, aber Una zerkleinert irgendetwas mit einem Stößel in einem Mörser und schüttet es dann als Pulver in einen Becher, während Dimitri immer noch neben der Tür an der Wand lehnt.
Ich wende mich wieder Tante Abigail zu. »Aber wie soll ich die Seiten finden, wenn du mir nicht sagen kannst, wo ich sie suchen soll?«
Ihre Hand lässt meine los, packt stattdessen meinen Arm und zieht mich so nah an sich, dass ich nur noch wenige Zentimeter von ihren trockenen und aufgesprungenen Lippen entfernt bin. »Du wirst Altus übermorgen verlassen. Edmund, der Vertraute deines Vaters, wird dich von der Insel geleiten und zum ersten Treffpunkt bringen. Auf jedem Abschnitt deiner Reise wird dir ein anderer Führer zur Seite stehen. Nur Dimitri wird dich auf der ganzen Strecke begleiten. Er steht schon eine ganze Weile in meinen Diensten und hat mein uneingeschränktes Vertrauen.«
Ihr Blick hält meinen fest und ich glaube ein stolzes Aufflackern in ihren Augen zu sehen. »Keiner wird den ganzen Verlauf deiner Reise kennen. Jeder Führer ist nur für eine kleine Strecke verantwortlich. Selbst der letzte wird nicht wissen, dass er es ist, der dich zu den Seiten bringt. Er wird glauben, dass sein Teilstück nur eins von vielen ist.«
Ich richte mich auf, während mich eine Welle von Liebe und Stolz für meine Tante überkommt. Sterbenskrank, wie sie ist, lassen sie ihr Verstand und ihr Wille nicht im Stich. Aber ich bin nicht mehr so naiv und vertrauensselig wie früher.
»Was ist, wenn einer der Führer uns im Stich lässt oder den Seelen anheim fällt?«
»Die Führer sind sorgfältig ausgewählt, aber es ist klug, jede Möglichkeit in Erwägung zu ziehen«, sagt sie mit keuchendem Atem. »Das ist der Grund, warum ich dir – und nur dir – sagen will, was du wissen musst.«
Sie bedeutet mir, näher zu kommen, und ich beuge mich vor.
»Noch näher, Liebes.« Ich lege mein Ohr an ihre Lippen, und sie flüstert nur ein einziges Wort. » Chartres .«
Ich richte mich auf, ohne zu wissen, was ich da gerade gehört habe. Ich habe das Wort wohl richtig verstanden, aber ich weiß nicht, was es bedeuten soll. »Ich glaube nicht, dass …«
Sie unterbricht mich flüsternd. » Zu Füßen des Wächters. Keine Jungfrau, sondern eine Schwester .« Ihre Augen zucken durch den Raum. »Wenn du das Meer überquert hast, kannst du dich von
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