Liebe und Völkermord
stehen. Er heulte. Das ganze Dorf sollte seine Klagelieder über seine tote Frau hören. Es war zum einen schon gespielt, aber zum anderen auch authentisch. Er hatte sie geliebt und sie wegen ihrer Respektlosigkeit und aufgrund seines Materialismus ermordet. So laut klagen musste er jetzt, um den Mord an seiner Frau Anderen anzuhängen. Innerlich weinte er um seine Seele. Es war doch eigentlich alles wie geplant verlaufen, dachte er. Doch traf das Schicksal auch ihn. Nun bereute er aufrichtig, was er dem Abuna angetan hatte.
Als sie ins Haus hereinplatzte, sprang er erschrocken auf und versteckte sich am Seiteneingang des Wohnzimmers. Sie schloss die Tür leise und rief dann Matthias' Namen. Matthias beruhigte sich und stellte sich in den Eingang. Sofort erkannte er in ihrem Gesicht, irgendetwas hatte sie verärgert. Es war kein Schock nach dem Erblicken der Ermordeten. Er kannte diesen Blick, es war der Blick von enttäuschten Menschen. Irgendjemand, ein Lebender, musste sie also wütend gemacht haben. Er war so neugierig, jedoch traute er sich noch nicht, sie nach dem Grund ihrer Wut zu fragen. Sie würde es ihm bestimmt bald von selbst erzählen, dachte er. So stellte er ihr absichtlich eine andere Frage: „Hast du noch mehr Tote gesehen?“
Sie wollte sich nur noch auf ihre Matte hinlegen, sich ausruhen und schlafen, und nicht mit ihrem aramäischen Freund reden. Nach einem erholsamen Schlaf würde die Welt vielleicht anders und besser aussehen. Doch schlafen konnte sie nicht. Egal, wie sehr sie sich dazu zwingen würde. Sie kannte sich selbst gut. „Nein, hier im Dorf nicht. Ich befürchte, sie haben sie alle fortgejagt und außerhalb unseres Dorfes erschlagen. Furchtbar!“
Natürlich konnte sie ihm nicht den wahren Grund ihrer Depression verraten. Nun plagte sie ihr Gewissen. Dieser kleine Mann machte sich Hoffnungen auf ihre Liebe. Er war zweifellos in sie verliebt. Doch sie hatte Augen nur für Ali. Und als sie ihn mit Maria gesehen hatte, war sie beinahe ausgerastet. Sie war eifersüchtig. Gewiss wollte er das Mädchen vor dem sicheren Tod retten, doch hätte er es nicht getan, wenn er nicht wirklich etwas für sie empfunden hätte, wie sie wusste.
Und was war nun mit Matthias? Sie fand ihn süß, aber – so war es nun einmal – er war kein richtiger Mann. Er hatte nicht die Körpermindestgröße eines Mannes für sie. Der Charakter des Mannes und auch der ihre waren ihrer Meinung nach sehr wichtig. Sie versuchte schon, sich den besten Charakter anzueignen. Jedoch, so sehr sie es auch versuchte, sie war einfach zu schwach und gab schließlich doch ihren Gelüsten nach. Ali aber war nicht der richtige Mann für sie, das war ihr klar. Nur Matthias würde einen vortrefflichen Ehemann abgeben. Nur er würde ihr den Rest seines Lebens treu sein, sie bei allen Dingen unterstützen und nicht von ihrer Seite weichen. Deswegen wollte sie ihn nicht vergraulen.
Sie legte sich auf ihre Matte hin, auf der linken Seite des Wohnzimmers. Ihr linker Arm stützte ihren Kopf. Sie schloss für einen Moment ihre Augen. Matthias setzte sich auf die andere Matte hin, auf der gegenüberliegenden Seite. Zwar hatte er gemerkt, sie hatte ihn angelogen und verbarg etwas vor ihm, doch dachte er nicht im Entferntesten an einen Seitensprung durch sie. Solche Gedanken hatte er nicht.
Sie öffnete ihre Augen und schaute zu ihm auf. Sie lächelte freundlich. Er lächelte auch. Seit einigen Tagen hatte er kein Bad mehr genommen, er stank fürchterlich. Meridschan hatte sich schon an den Geruch gewöhnt. Dann verzog sie ihre Miene und schaute ihn deprimiert und mitleidsvoll an. „Liebst du mich?“
Matthias schämte sich und wurde nervös. Er senkte seinen Blick und betrachtete seine Hände. „Ja, ich liebe dich, Meridschan.“
„Warum? Du kennst mich doch kaum.“
Matthias schaute sie verwirrt an. „Wieso sagst du so etwas?“
Ob sie ihn liebte, konnte sie nicht mit Gewissheit sagen. Sie mochte ihn, sie fand ihn sympathisch. Aber, ob es Liebe war, wusste sie nicht. Sie kannte ihn erst seit ein paar Wochen. Sie hatte sich schon öfters auf den ersten Blick verliebt. Es war also nur Schwärmerei. Obgleich, einen Mann wie Matthias würde sie kein zweites Mal finden.
Sie schwiegen eine Weile lang. Unbewusst hatte sie ihm einen Hinweis geben wollen, hatte sie ihm sagen wollen, sie sei nicht die richtige Frau für ihn und er solle sich eine bessere suchen. Die Vernunft holte sie wieder auf den Boden der Tatsachen. Sie durfte
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