Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Liebe und Völkermord

Liebe und Völkermord

Titel: Liebe und Völkermord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Imran
Vom Netzwerk:
Wutgeheule unterdrückte er. Hätte er geschrien, wären einige Soldaten ins Zelt eingefallen. Soweit war er noch bei Verstand. Schließlich ließ er den hilflosen Gelähmten auf die Matte fallen. Orhan atmete tief durch. Sein Bauch schmerzte furchtbar. Er legte sich zur Seite hin und schloss seine Augen.
    Dieser Orhan war quasi sein Ersatzbruder, sein jüngerer Bruder. Gelegentlich kam es zu einem Streit zwischen Brüdern und dann folglich auch zu einer Rauferei. Trotzdem waren sie immer noch Brüder und auch solche handgreiflichen Auseinandersetzungen konnten sie nicht voneinander trennen.
    Ali hatte diese Schwäche, er hatte keine Selbstdisziplin. Bisweilen rastete er aus und konnte seinen Zorn nicht im Zaum halten. Er war ein Lebemann und wollte eigentlich nur den Freuden des Lebens frönen. In ihm aber steckte dieses Biest. Dieses Biest befand sich zwar in einem Käfig. Doch wenn es zu sehr gereizt wurde, konnte es selbst ein solch eiserner Käfig nicht zurückhalten.
    Er kam allmählich wieder zu sich. Er schaute zu Orhan und sah, was er ihm angetan hatte. Sofort entschuldigte er sich bei ihm. Jedoch blieb er an derselben Stelle stehen. Orhan schwieg und schnaubte immer noch. Ali quälte sein Gewissen nun. Wenn er einem Krüppel so etwas antun konnte, zu was wäre er denn noch fähig gewesen, fragte er sich. Um abzulenken, setzte er den Zeigefinger seiner rechten Hand vor seine Unterlippe und tat so, als würde er überlegen. „Wo befinden sich eigentlich die Männer des Mustafa Ali gerade?“
    Als sie noch Kommilitonen waren, durfte Orhan sich wehren. Als Ali Pascha wurde und in der Gesellschaft aufstieg, durfte er ihn nicht verletzen, sonst hätte er mit staatlichen Maßnahmen gegen seine Person rechnen müssen.
    Nach solchen Momenten hasste Orhan Ali. Immer schwor er sich, nie wieder ein Wort mit diesem Scheusal zu wechseln. Doch immer wieder gab er nach und redete dann doch wieder mit ihm. „Wir haben erfahren, dass sie nach Mardin gezogen sind. Dort hatten sie keinen großen Erfolg. Dann sind sie nordwärts gezogen und haben ein Dorf nach dem anderen vernichtet. Sie kommen uns immer näher. Bald wird sich ihr Heer dem unseren anschließen.“
    „ Er kommt doch mit diesem Agha Muhammad Ali und seine Armee besteht nur aus kurdischen Bauern. Wenn sie sich uns anschließen, und ihre Männer auf unsere stoßen, fürchte ich, könnte es unerwarteterweise zu Konflikten zwischen ihnen und unseren Söldnern kommen. Darum, gib Befehl, die Plünderungen der Dörfer einzustellen! Wir ziehen nach Iwardo. Noch bevor die Kurden-Armee eintrifft, werden wir die Festung eingenommen haben.“
    Orhan konnte seinen Körper nicht mehr bewegen. Er nickte nur. So oft schon hatte er solche Ausfälle seines Ex-Kommilitonen und Gefährten dulden müssen. Irgendwann wäre Schluss damit, sagte er zu sich selbst. Auch er hatte eine Familie. Zwar war er nicht so wohlhabend und mächtig geworden wie sein Freund, denn er hatte sich damals als Student mit Enver wegen eines Mädchens gestritten, was Enver ihm nie verziehen hatte und weswegen Orhan sich fern von Envers Politik hielt. Jenes Mädchen, Göksel, war seine Ehefrau geworden. Göksel war Orhans große Liebe. Doch Göksel konnte sich dem Charisma des Enver nicht entziehen. Sie bewunderte ihn und traf sich heimlich mit ihm, doch kam es zu keiner Zeit zu Intimitäten zwischen ihnen. Dank ihres Einflusses auf Enver war Orhan noch am Leben. Orhan selbst hatte nie davon erfahren.
    Er nahm all seine Kräfte zusammen und erhob sich. Ali stützte ihn nicht. Er verneigte sich mit versteinerter Miene vor Ali und hinkte dann zum Ausgang.
     
    Zwanzig Kilometer nördlich des Lagers des Ali Pascha befand sich jenes der vereinten Heere des Jüsbaschi Mustafa Ali und des Agha Muhammad Ali. Der Agha hielt sich mit seiner Armee abseits vom Lager des Jüsbaschi. Nicht zu übersehen war daher die eigentliche Abneigung und den Widerwillen des Aghas bezüglich dieses Genozids an den Christen. Doch wagte es der Agha nicht, sich dem Vertreter der osmanischen Regierung entgegenzustellen. Er war zwar der Agha und damit der König der Kurden des Tur Abdin, aber, bezogen auf diesen Fall, war die Lage ganz anders. Es handelte sich zum einen um einen religiösen und zum anderen um einen nationalen und ethnischen Konflikt. Jeder kurdische Stamm dachte in Bezug auf diese Fragen anders und dementsprechend waren die Kurden allesamt nicht einer Meinung. So waren die Aramäer von Mardin von den Massakern verschont

Weitere Kostenlose Bücher