Liebe und Völkermord
bereiten, Hochwürden.“
Der Sinn von Mahmuds Besuch leuchtete Musa nicht ein. Wollte jener sich etwa bei ihm einschleimen und ihn so irgendwann dazu überreden, Maria nicht mit Zwang zum Islam zu bekehren vor der Hochzeit mit seinem Sohn, fragte er sich. Dann dachte er wieder an Nurdschan und seine vertrackte Lage. Mahmud war ihre Abwesenheit sofort aufgefallen. Zwar hatte er am Morgen draußen vor ihrer Leiche ein Klagelied lautstark gehalten, doch niemand war herbeigekommen. Wohl, da sie dachten, der Imam würde nun wieder seinen Pflichten als Geistlicher nachgehen, aber aus Respekt vor den Toten nicht wie gewohnt zum Gebet rufen, sondern ein Klagelied für sie anstimmen.
Dann fiel ihm eine sehr gute Idee ein.
Er kniff seine Augen zusammen und verzog sein Gesicht. Tränen traten aus seinen Augen hervor. Er keuchte. Mahmud schaute ihn bestürzt an. „Hochwürden, was habt Ihr?“
„Sie ist tot. Sie haben sie umgebracht.“
„ Nurdschan ist tot? Aber heute morgen habe ich sie doch hier in Eurem Haus gesehen. Sie hat uns doch den Tee gebracht.“
Musa hielt seine Augen geschlossen und schalt sich innerlich wegen seines Fehlers, denn er hatte den Plural benutzt. „Er ist es gewesen. Ich habe gesehen, wie er sich davongeschlichen hat. Leider kam ich zu spät. Meine geliebte Nurdschan, sie ist tot.“
„Mein Beileid, Hochwürden. Wo habt ihr ihn gesehen und wie sah er aus?“
Er führte ihn aus dem Haus heraus hinter das Haus, wo die Leiche seiner toten Frau lag. Fassungslos hielt Mahmud beim ersten Anblick der Toten inne. Zwar hatte er sich nie mit dieser Frau richtig unterhalten und er hatte sie kaum gekannt, dennoch hatte er sie sehr gemocht. Er traute sich nicht, sich der Leiche zu nähern. Der Imam trat an sie heran, sein rechter Fuß war nur wenige Zentimeter von ihr entfernt. Er versperrte Mahmuds Sicht auf ihren Oberkörper. Das tat er unbewusst und sollte sich als sein Glück erweisen.
„Hochwürden, wer hat sie getötet? Wohin ist er gegangen?“
„ Er war klein, es war ein kleiner Mann. So klein wie ein zehnjähriger Junge. Ich habe ihn noch nie hier gesehen. Er ist nach Norden in die Richtung zum Brunnen gerannt. Ich habe ihn aber nicht mehr gesehen. Ich vermute, er hält sich immer noch in unserem Dorf auf.“
Mahmud senkte sein Haupt. „Hochwürden, ich gehe sofort und suche nach diesem Mann. Wenn ich ihn gefasst habe, bringe ich ihn zu Euch.“
Musa bedankte sich bei ihm. Mahmud verschwand hinter der Ecke des Hauses. Der Mufti stand immer noch dort und schaute auf seine tote Frau herab. Gewiss, es war eine schwere Sünde, den Mord an seiner Frau diesem Kleinwüchsigen anzuhängen. Doch er hatte keine andere Wahl, denn früher oder später wäre der Verdacht auf ihn gefallen. Und – auch wenn er den kleinen Mann sympathisch fand – er war doch nur ein Aramäer, ein Christ.
Dann erst kam es ihm in den Sinn, ein Kleinwüchsiger wäre doch unmöglich an ihren Hals herangekommen. Also musste er ihr eine Wunde auf der unteren Körperhälfte beibringen. Er rannte den Weg zurück zu seiner Haustür.
Surjoje, Syrer, Sürjani
Sie hatten zwar die geflohenen Kafroje bis zum Tal verfolgt, doch befahl der Pascha ihnen, die Aramäer ziehen zu lassen. Unweit vor ihnen gäbe es viele Dörfer, welche sie plündern könnten.
Sie hatten ganze zehn Dörfer westlich von Kafro ausgelöscht, kein einziger Aramäer überlebte die Massaker. Zehn andere Dörfer weiter nordwärts hatten sie teils ausgelöscht, teils nur geplündert, da entweder die muslimischen Mitbewohner der Dörfer eingeschritten waren und die Soldaten die Aramäer nicht abschlachten ließen, oder die Aramäer waren bereits beim Heranrücken des Heeres rechtzeitig geflohen.
Ali Pascha und sein Freund und Adjutant Orhan hatten mit ihren Augen das Grausamste mitansehen müssen. Sie mischten sich in die Barbarei ihrer Soldaten nicht ein. Zum einen fürchteten sie in diesem Fall um ihr eigenes Leben und zum anderen um ihre Position als Befehlshaber. Die Söldner hatten sich verändert. Sie waren Tiere geworden. Erbarmungslos schlachteten sie auch die Kinder ab.
Zwanzig aramäische Dörfer waren nun allein durch die Armee des Ali Pascha vernichtet worden. All das Blut, welches vergossen wurde, all die Leichen auf ihrem Weg, auf dem Land und auf dem Wasser, all die Schreie der Sterbenden, welche sie gehört hatten, und all die unmenschlichen Zugeständnisse, welche sie
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