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Liebe und Völkermord

Liebe und Völkermord

Titel: Liebe und Völkermord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Imran
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seufzte dann. Gesenkten Hauptes schritt er auf Matthias zu. Er fasste ihn mit seiner rechten Hand an der linken Schulter an. „Es freut mich, dich wiederzusehen, Bruder. Doch bitte ich dich, sprich nicht wieder von Kafro.“
    Matthias schaute ihn verständnislos an. „Was ist mit dir geschehen?“
    Immer noch starrte Gaurije auf den Boden. Dann endlich enthüllte er sein Geheimnis. „Ich lief davon, ich lief über den Osthügel des Dorfes. Da war ein alter Mann, der mir im Wege stand. In all der Panik habe ich ihn zur Seite gestoßen. Er fiel zu Boden. Ich drehte mich kurz zu ihm um, doch der Türke kam immer näher. Ich überließ ihn seinem Schicksal.“
    Aus seinem rechten Auge tropfte eine Träne herunter.
    „Du hattest keine andere Wahl, Gaurije. Unsere anderen Schwestern und Brüder sind auch um ihr Leben gerannt. Ich kann dir zum Trost sagen, dass nur wenige von ihnen von den Muslimen abgeschlachtet wurden. Die meisten von uns konnten fliehen. Die Türken plünderten zuerst das Dorf, ehe sie die Verfolgung der Flüchtlinge aufnahmen.“
    Der verwirrt drein guckende Mann nickte leicht mit dem Kopf. „Wir konnten nichts mehr tun. Wir sind jetzt hier in Sicherheit. Wir bleiben hier. Wir bleiben hier. Wir bleiben hier.“
    Matthias schaute ihn mitleidsvoll an. Er sah den Kummer in Gaurijes Augen. Offenbar hatte er ihm nicht die ganze Wahrheit erzählt. Er hatte viele schreckliche, unvorstellbare Dinge gesehen. Und offenbar war er ein Feigling gewesen. Er war anscheinend doch nicht bereit, sein Leben zu opfern, so wie er es auf ihrer Hinreise nach Kafro Matthias gegenüber behauptet hatte.
    Matthias seinerseits verurteilte den jungen Mann nicht. Nicht jeder Mensch war tapfer und nicht jeder musste es sein. Gewiss, Feigheit war etwas Schändliches, doch, wenn alle Menschen feige wären, dann gäbe es keine Kriege. Die Kriegstreibenden seien die Anmaßenden, die sogenannten Tapferen. So gesehen waren die Feiglinge die Tugendhaften. Das war Matthias' Erkenntnis aus diesem Sachverhalt.
    Er klopfte Gaurije mit seiner linken Hand auf den Rücken und sagte zu ihm, er solle sich keine Gedanken mehr machen, alles würde gut werden, und wünschte ihm danach einen schönen Tag.
    Er zog den Landweg entlang weiter aufwärts.
    In seinem Elternhaus traf er nur Rahel an. Sie schaute ihn nur verächtlich an und fragte ihn, wo er denn die ganze Zeit gewesen sei. Er antwortete ihr, er hätte viel zu tun gehabt. Sie hatte kurz vor seinem Eintritt ins Haus den Tee aufgesetzt und stand an der Kanne und kochte neues Wasser. Die Küche befand sich hier im Nebenraum, der Korridor genau hinter dem Eingang. Das 14-jährige Mädchen kniete die ganze Zeit auf dem Boden und schaute nicht mehr zu ihm, sie wandte sich der Kanne zu. „Den ganzen Tag lang tust du nichts! Du könntest einmal anpacken und mir helfen. Hast du überhaupt kein Mitleid mit unserer armen Mutter?! Sie hat doch schon genug durchgemacht in letzter Zeit und sie ist nicht mehr jung!“
    Die Tür stand noch offen. Es war drückend heiß an diesem Tag. Und hier unten in diesem Haus war die Hitze noch erdrückender.
    „Ich tue mehr, als du glaubst, kleine Schwester! Behaupte nicht noch einmal, ich würde nichts tun und den ganzen Tag lang nur faul herum sitzen!“
    Dampf trat aus der Kanne hervor und der Deckel sprang herunter auf den Boden. Sie nahm ihn mit ihrer rechten Hand und setzte ihn wieder zurück. Matthias stand zu ihrer linken Seite und beugte sich etwas vor, um ihr Gesicht zu sehen. Sie gab vor, ihm nicht zuzuhören.
    „Ich war in Kafro. Ich bin nachts hingegangen und habe die Menschen dort gewarnt.“
    Sie schaute zu ihm auf. „Du lügst doch!“
    „Nein, ich sage die Wahrheit! Glaub es mir! Es ist tatsächlich so gekommen, die Türken haben das Dorf überrannt und Chaos ist ausgebrochen. Einige konnten entkommen, die anderen wurden in ihren Häusern oder draußen erschlagen. Es war furchtbar.“
    „ Und wie konntest du dann überleben?“
    Matthias geriet ins Stottern. Seine Schwester erkannte seine Nervosität. Also log er doch, dachte sie.
    „Eine kurdische Familie hatte Mitleid mit mir. Sie haben mich in ihr Haus genommen und ich habe mich dort versteckt.“
    „ Das hast du gut getan. Ich bin stolz auf dich, mein Sohn“, sprach Isa, Matthias' Vater. Er stand im Eingang. Matthias hatte nicht gesehen, wie er näher gekommen war. Der Kleinwüchsige drehte sich zu seinem Vater um und lächelte ihn an. Selten erhielt er einen Lob von seinem Vater. Der

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