Liebe und Völkermord
ihrer Eltern einzutreten.
Was war das?
Muhammad war munter, hatte sich angekleidet und stand nun bereit, auszutreten.
Das konnte unmöglich sein, dachte Aische. Warum war er denn nicht tot umgefallen? Ihre Mutter hatte ihr doch gesagt, das Gift würde sofort wirken. Sie schaute auf den Boden, da lag das leere Glas. Ihr Mann hatte den Tee getrunken. Vielleicht würde es noch einige Zeit dauern, bis das Gift seine Wirkung zeigen würde. Oder er war doch der leibhaftige Teufel und kein Gift der Welt könnte ihn umbringen.
Sie geriet in Panik. Sie wollte nicht mehr länger in dem Haus dieses Tyrannen weilen. In dem Schlafgemach packte sie ihre Kleider in eine ihrer schwarzen Ledertaschen und legte sie auf den Boden des Korridors. Sie überlegte, was sie noch einpacken sollte. Gleich würde sie verschwinden und dieses Haus nie mehr wieder betreten.
Doch nun klopfte jemand an der Tür. Sie ging hin und öffnete sie. Barsaumo stand vor der Tür.
Er trat ohne Erlaubnis seitens der Herrin in das Haus ein und sagte mit kräftiger Stimme zu ihr, er habe doch einen Tag für sie gearbeitet und er würde auf den Lohn dieses einen Arbeitstages bestehen. Aische war einverstanden mit seiner Forderung und eilte wieder in das Schlafgemach, um Geld in Muhammads Kleidung zu suchen.
Barsaumo schaute sich um. Der Korridor war nicht so groß wie in seiner Vorstellung. Wahrscheinlich war der Wesir doch nicht so reich, wie jeder Aramäer behauptete, dachte er.
Sie kam wieder zurück und gab ihm vierhundert Kurusch (Piaster). Er bedankte sich bei ihr und bat sie, sich setzen zu dürfen, er wolle sich noch mit ihr unterhalten. Aische wollte sich eigentlich schnellstmöglich dieses unverschämten Aramäers entledigen, doch eine innere Stimme hielt sie davon ab. Gleichwohl, dieser Mann war ihr auf irgendeine Art sympathisch. Mehr noch, er reizte sie. Ja, er war verführerisch.
Sie kam wieder zurück mit dem Tee. Ihr Schleier fiel herab, als sie sich bückte und das Glas vor Barsaumo auf den Boden legte. Er sah die Wunden in ihrem Gesicht. „Was ist mit Eurem Gesicht geschehen?“
Sie verdeckte schnell wieder ihr Gesicht. Sie schwieg.
„ Hat er das mit Euch angetan?“
Sie schwieg immer noch.
„Wie haltet Ihr das mit ihm aus? Er ist ein schlechter Mensch. Er ist skrupellos, plündert die aramäischen Dörfer und tötet sogar Kinder. Ja, wer weiß, er würde bestimmt auch Frauen töten. Ja, vielleicht würde er sogar seine eigene Frau töten.“
Er beugte sich vor und versuchte, einen Blick auf ihre Augen zu erhaschen. Sie schwieg immer noch.
„Ihr seht noch sehr jung aus. Ihr seid so hübsch. Man sollte Euren Gemahl dafür hinrichten, dass er ein solch hübsches unschuldiges Wesen verletzt.“
Allmählich erweichte Aisches Herz. Sie ließ den Schleier von ihrem Gesicht fallen. Sie schaute ihn an. Sie schauten sich für einen Moment lang schweigend gegenseitig an. Furcht, aber auch Sehnsucht konnte Barsaumo aus den Augen dieses Mädchens herauslesen. Und auch Hilflosigkeit.
„Mein Mann könnte in jedem Augenblick wieder zurück sein. Wenn er uns beide hier sieht, wird er dich töten. Geh jetzt sofort. Bitte!“
Barsaumo seufzte. Er blieb sitzen. „Warum bist du so schroff zu mir? Ich weiß, du bist verzweifelt. Du brauchst jetzt jemanden. Du brauchst Beistand.“
„Ich gehe zu meinen Eltern. Ich bitte dich, geh jetzt!“
Der Aramäer dachte nicht daran, so leicht aufzugeben. Obwohl, ihr hübsches Gesicht war verstümmelt, sie bot doch keinen Reiz mehr für ihn. Dennoch, ihr Körper war begehrenswert. Und sie war immerhin die Frau des Wesirs, des von den Aramäern am meisten gehassten Kurden. Sie ins Bett zu kriegen, wäre glorreicher als ein Sieg in einer Schlacht, dachte er.
Sie stand auf und schlenderte zur Tür. Er schaute ihr nach.
„ Ich gehe aber nicht!“
„ Was hast du vor? Allein, dass du schon hier bist, ist mehr als genug. Du musst jetzt gehen, bevor uns jemand hier erwischt. Ich darf keine Männer ohne Anwesenheit meines Mannes ins Haus lassen.“
„ Dieser Mann, der dich geschlagen hat? Du tust immer noch das, was er dir befiehlt?“
Sie drehte sich um und schaute ihn schweigend an. Er streckte seinen rechten Arm nach ihr aus. Sie schritt langsam zurück zu ihrem vorherigen Platz und setzte sich auf den Boden. Sie schauten sich gegenseitig in die Augen. Er wirkte wirklich sehr sympathisch auf sie. Sie zwang sich ein Lächeln auf die Lippen. Er stand auf und sprang zum Platz neben ihr hin. Immer
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