Liebe und Völkermord
herunter zum Gehweg. Doch dann hörten beide Jungen einen lauten Knall. Sie merkten sofort, der Knall kam aus dem Osten. Johannes stand stramm, er vergaß seine Schmerzen. „Was ist da los?“
Aziz bewegte sich einige Schritte nach vorne und seine Augen wurden zu Schlitzen. Er hielt sich seine linke Hand über die Augenbrauen, denn die Sonne blendete ihn. Er blieb geschockt stehen. „Oh mein Gott, unser Dorf wird angegriffen!“
Musa Ibrahim war der Imam von Kafro und der Obermufti der Muslime des gesamten Tur Abdin. Er hatte gute Kontakte zu den Aghas Bilad und Tschalabi gepflegt. Und nach außen hin gab er vor, tolerant gegenüber den Christen zu sein. Er saß fast jeden frühen Abend, vor Sonnenuntergang, neben Abuna Malke, dem Pfarrer von Kafro, vor seiner Kirche. Sie sprachen über Privates und Berufliches.
Abuna Malke sorgte sich sehr um die Zukunft seiner Gemeinde. Er war ein Pragmatiker und wusste, er musste gute Beziehungen zu der muslimischen Gemeinde pflegen. Verbale und tätliche Patzer durfte er sich nicht erlauben. Wenn ein junger Mann seiner Gemeinde von einem der Missionare des Imam zum Islam bekehrt worden war, akzeptierte es der Pfarrer schweigend. Im Gegenzug war es den Christen nicht erlaubt, Missionare zu den Muslimen zu schicken. Vom Islam abgefallene Männer und Frauen wurden öffentlich zu Tode gesteinigt.
Der Imam hatte ein großes Stück Land auf der südlichen Ebene des Dorfes als Eigentum. Er selbst bestellte sein Land. Er hatte nur eine Ehefrau, obwohl er sich dem Gesetz nach mehrere Frauen zu Ehefrauen hätte nehmen können. Er liebte seine Frau Nurdschan. Seit seiner frühen Kindheit kannte er sie, als ihre Eltern nach Mardin gezogen waren, wo Musa Ibrahim früher mit seinen Eltern gelebt hatte. Sie bewunderte seinen Ehrgeiz und seine Großzügigkeit ihr gegenüber. Dennoch hatte er früher einige Frauen nebenbei gehabt, denn Nurdschan war keine Schönheit. Und er war kein Heiliger.
An diesem Morgen war der reiche Schafhirte Mahmud, der Vater des Schürzenjägers Ali, bei ihm zu Besuch. Sie saßen auf dem Boden, jeder von ihnen hatte sein Glas Tee in seinen Händen.
Mahmud schlürfte den Tee in sich hinein. Der Imam tat es ihm gleich. Er war immer noch müde, obwohl er schon seit vier Stunden wach war. Seine Gelenke schmerzten. „Was ist Euer Anliegen, Mahmud?“
„Wisst Ihr, ich habe wirklich nichts gegen die Christen. Glaubt mir. Aber dieser Isa und seine Horde von Vieh regen mich auf. Ich habe ihm gesagt, er soll seine Herde auf die Weide auf der Westseite des Dorfes führen, er aber hat sie gestern wieder auf unsere Seite geführt. Er meinte, das Gras der anderen Weide sei nicht so gut. Was sollte ich machen? Ich sagte ihm, er habe kein Recht darauf. Er aber meinte, es sei ihr Land und wir seien nur Gäste.“
Der Imam nippte am Glas. Sein Nacken knackte. Er roch übel aus dem Mund, Mahmud konnte es riechen, ließ sich aber seinen Ekel nicht anmerken. Zahnpflege kannten die hiesigen Menschen nicht. Je nach Ernährungsgewohnheiten wurden die Zähne der Menschen im Laufe der Jahre immer schwärzlicher. Und sie bekamen einen fürchterlichen Mundgeruch. Nur wenige unternahmen etwas gegen den Mundgeruch und aßen Petersilie und andere Gewürze.
„Auch wenn es ihr Land war und sie vor uns hier waren, gilt das Recht des Stärkeren! So ist es schon immer gewesen. Wir haben die Macht! Und wir haben ihnen das Land weggenommen. Sie besitzen keinen Anspruch mehr auf dieses Land!“
„ Gut gesprochen, Hochwürden. Aber diese Christen wollen nicht hören. Was sollen wir machen? Ich will keine Gewalt anwenden.“
„ Letztendlich wird es aber dazu kommen müssen. Sie werden nicht hören, solange wir nicht Gewalt gegen sie anwenden.“
Mahmud seufzte verzweifelt. „Es muss eine andere Lösung geben. Ich spreche mit Abuna Malke. Hoffentlich kann er diesen Isa zur Vernunft bringen.“
„Ihre Priester sind die schlimmsten, glaubt mir. Spart Euch die Mühe. Ich rate Euch, wartet einfach ab.“
„ Was meint Ihr?“
„ Agha Bilad ist nicht blind. Er gedenkt, etwas gegen die Christen zu unternehmen. Er fürchtet sich nur vor dem Agha Tschalabi. Man munkelt, die beiden hätten sich inzwischen geeinigt.“
Als Mahmud das Haus des Imam verließ, hatte er ein unbehagliches Gefühl. Zwar war er schon bereit, für sein Eigentum zu allen notwendigen Mitteln zu greifen, doch wollte er es eigentlich nicht so weit kommen lassen. Sie hatten recht, es war ihr Land und die Kurden und
Weitere Kostenlose Bücher