Liebe und Völkermord
Türken hatten es ihnen weggenommen. Jedoch äußerte er seine Gedanken nie öffentlich. Er befürchtete, sein Ansehen bei den Muslimen würde geschädigt werden. Seine Frau Fatima wies ihn zurecht, sie schimpfte ihn sogar einen Feigling. Sein Sohn Ali jedoch riet ihm, den Aramäer-Hirten eine Weile lang zu dulden, denn er würde schon von selbst das Feld räumen.
Als am Abend der Imam sich wieder zu Abuna Malke gesellte, sprach er ihn auf diese Angelegenheit an. Abuna Malke bat ihn um Entschuldigung, er würde gleich am nächsten Morgen mit Isa sprechen und das Problem lösen. Doch der Imam, so raffiniert er war, riet ihm davon ab, dies zu tun. Sie, die Geistlichen, sollten sich nicht in diese Auseinandersetzung zwischen den beiden Männern einmischen. Nur wenn sie ausdrücklich darum gebeten würden, sollten sie es tun.
Die beiden Geistlichen spielten mit ihrer linken Hand mit jeweils ihrer eigenen Misbaha.
„Wisst Ihr, Mufti, wo sollen uns diese religiösen Konflikte hinführen?
Warum können Christen und Muslime nicht harmonisch nebeneinander leben?“
„Wenn es nach mir gehen würde, glaubt mir, dann würde es nie zu Streitereien zwischen uns kommen. Wir sind doch alle Brüder und Schwestern. Aber leider sind die Menschen nun einmal so, wie sie nun einmal sind. Selbst Gott kann sie in ihrem Wahn nicht aufhalten.“
„ Ihr seid ein hochangesehener Mann, Mufti. Ich vertraue Euch.“
„ Ich danke Euch. Ganz meinerseits.“
„ Ich habe nun auch von den Kämpfen der Osmanen gegen die Europäer bei den Dardanellen gehört. Ich habe ein unwohles Gefühl. Sagt mir, müssen wir Schlimmes befürchten?“
„ Wovon redet Ihr, Abuna? Nein, mir ist nichts zu Ohren gekommen.“
„ Sagt mir, wenn der Krieg sich auf dieses Gebiet ausbreiten sollte, was gedenkt ihr dann zu tun?“
„ Er wird sich nicht auf dieses Gebiet ausbreiten. Die Europäer haben kein Interesse an diesem Gebiet. Ohnehin kommen sie in Stambul nicht voran. Auch wenn, seid unbesorgt, Euch werden sie nichts antun. Egal, was uns trennen mag, wir respektieren euer Erbe.“
Dem Abuna gefielen die Worte des Imam. Dennoch spürte er, wahrscheinlich sagte der Muslim nicht die ganze Wahrheit.
In der Tat hatte Musa Ibrahim nur zwei Tage zuvor Onbaschi Abdulhamid Muhammad aus Mardin auf einer Anhöhe auf halbem Wege zwischen Kafro und Charabale getroffen, um über ihren geplanten Genozid an den Aramäern zu sprechen. Abdulhamid Muhammad war der andere Türke neben Jüsbaschi Mustafa Ali, welcher mit dem Wesir Muhammad Ali nach Badibe geritten war.
Die erste Schlacht
Sie lief ihm hinterher. So schnell war sie noch nie in ihrem Leben gelaufen. Ihr Herz raste und an den Seiten ihres Bauches bekam sie Stiche. Je näher sie an das Dorf herankam, umso lauter wurde der unerträgliche Lärm. Sie hörte Schüsse, viele Schüsse aus Gewehren, schrille Schreie von Verletzten, Jammern und Weinen von Frauen und Kindern. In diesen Momenten dachte sie an gar nichts. Wie in einem Trauma wandelte sie umher. Als sie auf der Anhöhe vor dem Zugang zum Dorf auf der Nordseite stand und auf das Dorf herabblickte, und sah, wie eine Reihe von Männern oben auf dem Berg auf der Südseite des Dorfes standen und mit Gewehren in ihren Händen auf etwas schossen unterhalb von ihnen, hielt sie inne.
Es herrschte Chaos. Solch ein Menschen-Durcheinander von um ihr Überleben kämpfenden Menschen hatte sie noch nie mit ihren eigenen Augen gesehen. Doch was sollte sie jetzt tun? Sie war schließlich keine von ihnen. Sie dachte erst daran, zu den Frauen und Kindern zu gehen, um sich um die weinenden Kinder zu kümmern. Aber keiner aus dem Dorf kannte sie und sie würden sie, das Zigeunermädchen, sicherlich nicht zu ihnen lassen.
Auf halbem Wege machte sie kehrt. Sie beschloss, ihre Leute aufzusuchen und sie aufzufordern, den Aramäern zu helfen. Wieder rannte sie so schnell. Sie überquerte die Anhöhe und befand sich wieder auf dem Gehweg im Tal. Ihr Vater konnte nicht mehr weit entfernt sein.
Als sie die Gemeinschaft antraf, fand sie sie in stiller Gesellschaft. Das Bild ihres Volkes machte in diesem Moment einen grotesken Eindruck auf sie. Konnten sie wirklich nicht den Lärm des Krieges hören? Von hier aus konnte sie den Hall der Schüsse hören. Es waren dumpfe Töne, doch unverwechselbar.
Ihr Vater Rahman spielte gerade auf seiner Mandoline. Er spielte eine traurige Melodie, jene, welche er immer auf
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