Liebe unter Fischen
Hätte er das gewusst, Fred wäre über Gera oder Chemnitz gefahren, ganz egal, ob das länger dauerte, Hauptsache: fahren.
Fred fuhr langsam, denn auf der Straße stand Wasser, und sein Auto verfügte weder über ABS noch ESP noch all die anderen Dinge, von denen er nicht genau wusste, wozu sie dienten, weil ihn das nicht interessierte. Sich für Technik und Autos zu begeistern, fand er peinlich. Jedenfalls tat er so. Ganz stimmte es ja nicht, denn sein eigenes Auto liebte er geradezu, einen uralten Mercedes, Benzin, Automatik, einer von denen mit senkrechten Scheinwerfern vorne, so alt.
Fred genoss die sagenhafte Heizung, die seine Füße wärmte, und die glatte Geschmeidigkeit der Ledersitze. Als er das sternumkränzte Schild mit der Aufschrift » Republik Österreich« sah, überkamen ihn keinerlei heimatliche Gefühle. Er mochte Österreich, aber er mochte auch seine Wahlheimat Deutschland. Dabei war Fred – wie alle österreichischen Kinder seiner Zeit – sehr antideutsch erzogen worden. Bei ihm zu Hause sagte man statt » Deutscher« prinzipiell » Piefke«. Die Verwendung des Grußes » Tschüss« wurde mit Hausarrest bestraft. Der Piefke galt als laut, geschmacklos und spießig, während der Österreicher sich selbst als charmant, stilvoll und fesch erlebte.
» Tschüss« sagte Fred noch immer nicht gerne, aber gelegentlich gebrauchte er es, um nicht durch ein allzu distanziertes » Auf Wiedersehen« unhö fl ich zu erscheinen. Ehemalige Tabu-Worte wie » Schorle« musste er einfach verwenden, um nicht zu verdursten. Und im Laufe der Zeit mischten sich ganz schön viele berlinerische und deutsche Redewendungen in sein österreichisches Idiom. Fred hatte seine piefkefeindliche Erziehung erfolgreich überwunden. Bei großen Turnieren beispielsweise hielt er im Fußball zu den Deutschen, wenn die Österreicher ausgeschieden waren.
Er hielt oft zu den Deutschen.
Warum um alles in der Welt hatte er sich tatsächlich auf den Weg zu dieser Hütte gemacht? Es war eine Kurzschlusshandlung gewesen. Wie vieles in seinem Leben. Als Susanne alle Schwüre getan hatte, die Ärztin der Charité-Klinik nicht zu kennen, hatte Fred sich zögernd für den Hüttenplan interessiert. Seit er aus dem Krankenhaus zurück war, fühlte er sich in seiner Wohnung noch weniger wohl als zuvor. Er wollte raus. Instinktiv wusste er, wenn er jetzt in Berlin in seinen eigenen vier Wänden blieb, dann würde alles wieder seinen trostlosen Lauf nehmen, diese seltsame Panik, die Verzwei fl ung über die Panik, die Hysterie wegen der Verzwei fl ung. Er musste die Energie nützen, mit der ihn die Diagnose » organisch völlig gesund« aufgeladen hatte, um dem Kerker seiner schlechten Gewohnheiten − saufen, zweifeln, fürchten, verzweifeln − zu entkommen. Er musste raus. Aber irgendwo hin, wo er sich schützen konnte. Wo er allein sein konnte. Er zog in Erwägung, ein Haus am Meer zu mieten. An der Ostsee. Die Sekretärin des Verlags durchsuchte das Internet nach verfügbaren Feriendomizilen. Erwartungsgemäß war es unmöglich, Ende Juni ein erschwingliches Sommerquartier am Meer zu finden.
Susanne Beckmann hatte ihm auf einer Landkarte gezeigt, wo die Hütte stand. Grünbach am Elbsee. Fred hatte von der Gegend schon gehört. Das Elbtal befand sich am Nordrand der Alpen. Es gab den Großen Elbsee, Ursprung des Elbflusses, und dahinter, weiter in den Bergen, noch den Kleinen Elbsee. An dessen Ufer stand die aus Lärchenholz gebaute Hütte.
» Es ist wirklich sehr idyllisch dort«, hatte Susanne gesagt.
» Es gibt keine Idylle«, hatte Fred geantwortet. » Idylle ist dort, wo man nicht genau genug hinsieht .«
» Sie können mir auch einen Band mit Aphorismen mitbringen«, hatte Susanne gemeint. Um sich gleich darauf zu korrigieren: » Sie müssen gar nichts, Fred. Fühlen Sie sich zu nichts verpflichtet. Genießen Sie einfach die Zeit. Denken Sie nicht ans Schreiben. Machen Sie Urlaub. Atmen Sie mal durch .« Als erfahrene Verlegerin wusste sie: Am besten ist es, bei den Autoren den Druck rauszunehmen. Das ist das Einzige, was sie wirklich unter Druck setzt.
Susanne hatte ihm erklärt, wo er Wasser und Holz finden würde. » Der Schlüssel liegt beim Alois im Gasthof zur Gams . Dort, wo die Straße zum Kleinen Elbsee abbiegt. Sagen Sie dem Lois einen schönen Gruß. Viel Spaß! Tschüss !«
Fred spürte die Müdigkeit in seinem Kopf, als er sich den Voralpen näherte. Es schüttete noch immer, und Tempo 80 bot nicht den geringsten
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