Liebe unter kaltem Himmel
überlegte, welches wohl die jungen Männer sein könnten, von denen Lady Montdore in ihrem Brief gesagt hatte, sie seien eigens für Polly und mich eingeladen. Offenbar waren sie noch nicht eingetroffen, denn keiner der Anwesenden war im Entferntesten jung, meiner Schätzung nach alle weit über dreißig, und wahrscheinlich waren sie auch alle verheiratet, obwohl man unmöglich erkennen konnte, welche Paare nun tatsächlich zusammengehörten, denn alle sprachen so, als wären sie miteinander verheiratet – in einem Tonfall und mit Kosenamen, die zumindest bei meinen Tanten unbedingt bedeutet hätten, dass jeder mit dem eigenen Gatten oder der eigenen Gattin sprach.
»Sind die Sauveterres noch nicht angekommen, Sonia?«, fragte Lord Montdore, der näher getreten war, um sich eine zweite Tasse Tee zu holen.
Unter den Frauen entstand eine Bewegung. Sie drehten die Köpfe wie Hunde, die glauben, sie hätten soeben gehört, wie jemand eine Tafel Schokolade aufreißt.
» Die Sauveterres? Meinst du Fabrice? Soll das heißen, er ist verheiratet? Das wundert mich aber!«
»Nein, nein. Natürlich nicht. Er bringt seine Mutter mit, sie ist eine alte Flamme von Montdore – ich habe sie noch nie gesehen, auch Montdore ist ihr seit vierzig Jahren nicht begegnet. Fabrice haben wir natürlich immer wieder getroffen, er hat uns auch in Indien besucht. Er ist so amüsant, ein köstlicher Mensch. Er hat sich so viel um die kleine Ranee von Rawalpur gekümmert, es heißt sogar, ihr letztes Baby …«
»Sonia …!«, sagte Lord Montdore für seine Verhältnisse ziemlich scharf. Sie achtete nicht darauf.
»Ein schrecklicher alter Mann, der Radscha dort, ich hoffe bloß, es stimmt. Arme Geschöpfe sind das, ein Kind nach dem anderen, sie müssen einem einfach leidtun, wie kleine Vögel, wisst ihr. Die, die im Purdah gehalten wurden, habe ich immer besucht, und natürlich haben sie mich vergöttert, es war wirklich rührend.«
Lady Patricia Dougdale wurde angekündigt. Auch während sich die Montdores im Ausland aufgehalten hatten, war ich den Dougdales hin und wieder begegnet, denn sie lebten in der Nachbarschaft von Alconleigh, und obwohl Onkel Matthew Nachbarn keineswegs ermutigte, stand es nicht in seiner Macht, sie völlig fernzuhalten oder sie daran zu hindern, bei den Jagdtreffs, bei den Geländejagden in der Umgebung, auf dem Bahnsteig in Oxford zum Zug um 9.10 Uhr und in Paddington Station zum Zug um 4.45 Uhr oder auf dem Marktplatz in Merlinford in Erscheinung zu treten. Außerdem hatten die Dougdales zuweilen ihre eigenen Gäste zu den Bällen nach Alconleigh mitgebracht, die Tante Sadie veranstaltete, als Louisa und später Linda »eingeführt« wurden, und sie hatten Louisa zu deren Hochzeit ein altertümliches, mit Blei gefülltes Nadelkissen von erstaunlichem Gewicht geschenkt. Die romantische Louisa, die sich vergewissern wollte, dass dieses Gewicht von dem Gold herrührte, mit dem es gefüllt sei – »das Ersparte von irgendjemandem, versteht ihr« –, hatte es mit ihrer Nagelschere aufgerissen und doch nur Blei gefunden, was zur Folge hatte, dass keines ihrer Hochzeitsgeschenke ausgestellt werden konnte, um Lady Patricias Gefühle nicht zu verletzen.
Lady Patricia war ein vollkommenes Muster an Schönheit, auch bei ihr lag sie hauchdünn an der Oberfläche. Früher hatte sie das gleiche Gesicht wie Polly, aber das blonde Haar war weiß geworden und die weiße Haut gelb, sodass sie aussah wie eine den Unbilden der Witterung ausgesetzte antike Statue, ein Schneepolster auf dem Kopf und mit von der Nässe verwaschenen Gesichtszügen. Tante Sadie erzählte, sie und Boy hätten einmal als das stattlichste Paar in London gegolten, aber das musste viele Jahre her sein, jetzt waren sie alt, um die fünfzig, und bald würde das Leben für sie zu Ende sein. Seit Langem war Lady Patricias Leben von Gram und Leiden erfüllt, Gram in der Ehe und Leiden in der Leber. (Ich zitiere hier natürlich Davey.) Sie hatte Boy, der etwas jünger war als sie, schon Jahre vor ihrer Heirat leidenschaftlich geliebt, er jedoch hatte sich auf die Ehe mit ihr angeblich nur eingelassen, weil die Verbindung mit der von ihm so hoch geschätzten Familie Hampton für ihn etwas Unwiderstehliches hatte. Der große Kummer seines Lebens war die Kinderlosigkeit, denn von ganzem Herzen hatte er sich eine Schar kleiner Halb-Hamptons gewünscht, und es hieß, die Enttäuschung hierüber habe ihn eine Zeit lang völlig aus der Bahn geworfen, inzwischen
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