Liebe unter kaltem Himmel
habe jedoch seine Nichte Polly offenbar die Stelle einer Tochter für ihn eingenommen, so groß sei die Hingabe, mit der er sich ihr widme.
»Wo ist denn Boy?«, fragte Lady Patricia, als sie die Leute in der Nähe des Kamins begrüßt und denen, die weiter weg standen, einen Wink mit den Handschuhen oder ein halbes Lächeln zugesandt hatte. Sie trug einen Filzhut, ein solides Tweedkostüm, Seidenstrümpfe und schöne blanke Kalbslederschuhe.
»Ich warte auch schon auf die beiden«, sagte Lady Montdore, »er soll mir hier am Tisch helfen. Er spielt Billard mit Polly – ich habe Rory zu ihm geschickt –, ach, da kommen sie ja.«
Polly gab ihrer Tante einen Kuss und dann auch mir. Sie sah sich um, ob inzwischen jemand eingetroffen war, dem sie noch nicht »Guten Abend« gesagt hatte (sie und ihre Eltern hielten – zweifellos infolge der vielen öffentlichen Ämter, die Lord Montdore bekleidet hatte – sehr auf strenge Umgangsformen), und wandte sich dann wieder mir zu.
»Fanny, bist du schon lange hier? Mir hat keiner was gesagt.«
Da stand sie leibhaftig vor mir, etwas größer als ich, und war plötzlich keine nebelhafte Kindheitserinnerung mehr, und all die verwickelten Gefühle, die wir für Menschen hegen, denen in unserem Leben einige Bedeutung zukommt, stürmten auf mich ein. Auch die Gefühle, die ich gegen den Lektor hegte, stürmten auf mich ein, sie waren nicht verwickelt.
»Ha!«, sagte er soeben, »da ist ja auch meine Frau Gemahlin.« Es schüttelte mich, wenn ich ihn sah, mit seinen schwarzen, angegrauten Locken und seinem forschen Schwung. Er war kleiner als die Hampton-Frauen, vielleicht zwei Zentimeter kleiner als Lady Patricia, und versuchte das durch übermäßig hohe Schuhsohlen auszugleichen. Immer blickte er furchtbar selbstzufrieden drein, und schon bei entspannter Miene saßen seine Mundwinkel weit oben, aber wenn ihn irgendetwas bewegte, wanderten sie noch höher und mimten dort ein äußerst irritierendes Lächeln.
Pollys blauer Blick ruhte jetzt auf mir, vermutlich erkannte auch sie einen Menschen wieder, an den sie sich nur undeutlich erinnerte, genau das gleiche Mädchen wie früher, das Mädchen mit den schwarzen Locken, das, wie Tante Sadie immer sagte, aussah wie ein kleines Pony und jeden Augenblick seine struppige Mähne schütteln und davongaloppieren konnte. Noch vor einer halben Stunde wäre ich liebend gern davongaloppiert, aber jetzt hatte ich große Lust, zu bleiben, wo ich war.
Während wir nach oben gingen, legte Polly einen Arm um mich und sagte mit aufrichtiger Herzlichkeit: »Ich bin ja so froh, dich wiederzusehen. Was ich dich alles fragen muss! So oft habe ich in Indien an dich gedacht! Weißt du noch, die schwarzen Samtkleider mit den roten Schärpen, in denen wir nach dem Tee hinuntergingen? Und wie Linda Würmer hatte? Mir kommt es vor wie ein anderes Leben, so weit liegt das zurück. Wie ist denn Lindas Verlobter?«
»Er sieht sehr gut aus«, sagte ich, »ein netter Kerl. Aber in Alconleigh mögen sie ihn nicht sehr, keiner dort.«
»Wie schade. Aber solange Linda ihn gern hat – nun stell sich einer vor, Louisa verheiratet und Linda schon verlobt! Natürlich, vor Indien waren wir ja eigentlich alle noch Babys, und jetzt sind wir alt genug zum Heiraten, das ist schon ein Unterschied, oder?«
Sie seufzte tief.
»Du bist doch sicher in Indien ›eingeführt‹ worden?«, fragte ich. Polly war etwas älter als ich.
»Ja, vor zwei Jahren. Es war alles sehr langweilig, dieser Eintritt in die Gesellschaft ist doch eine äußerst trostlose Veranstaltung – macht es dir etwa Spaß, Fanny?«
Ich hatte nie darüber nachgedacht, ob es mir Spaß macht oder nicht, deshalb wusste ich nicht recht, was ich auf ihre Frage antworten sollte. Mädchen wurden »eingeführt«, das war nun mal so. Es war eine Etappe in ihrem Dasein, so wie das Privatinternat im Dasein der Jungen – eine Etappe, die man hinter sich bringen musste, bevor das Leben, das wirkliche Leben, beginnen konnte. Bälle sind angeblich etwas Herrliches; sie kosten eine Menge Geld, und es ist sehr nett von den Erwachsenen, dass sie sie veranstalten, und sehr nett war es auch von Tante Sadie, dass sie mich zu so vielen Bällen begleitete. Aber obwohl es mir wirklich Spaß machte, hinzugehen, hatte ich auf den Bällen selbst immer das unbehagliche Gefühl, irgendetwas nicht mitzubekommen – wie bei einem Theaterstück, das in einer mir fremden Sprache gegeben wird. Jedes Mal hoffte ich von Neuem,
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