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Liebe

Titel: Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Precht
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Eigeninteresse lässt unsere Leidenschaften kippen und stellt sie auf den Kopf, in der Familie nicht anders als in der Liebe. Was Eva Illouz über Ehe und Liebe sagt, gilt eben auch für die Familie. Auch sie ist »der nüchternen Überlegtheit ökonomischen Handelns und der rationalen Suche nach Selbstbefriedigung und Gleichberechtigung unterworfen – also alles andere als einem amoralischen Relativismus, der angeblich unsere Beziehungen und unsere >Familienwerte< zerstört hat.« 117 Aber was sind das denn eigentlich genau – Familienwerte?

Die Familie, die es nie gab
    So genannte konservative oder bürgerliche Parteien – beide Begriffe sind irreführend – betonen gerne den Wert der Familie, die Familie als einen Wert oder auch die Familienwerte. Man soll die Familien stärken, eben mehr Wert auf sie legen, und vielfach gilt es »zurück« zur Familie zu kehren. Das klingt schön,
warm, vertraut und gemütlich: zurück zur Familie. Fragt sich nur – zu welcher?
    Dem Wortsinn nach bedeutet die »Familie« Hausgemeinschaft, allerdings nicht im Sinne von Vater, Mutter, Kind, sondern im Sinne von väterlichem Besitz. Auch Gesinde, Sklaven und Vieh gehörten bei den Römern zur Familie. Eine feste Definition der Familie als ehelicher Gemeinschaft mit Kindern gibt es erst vom 18. Jahrhundert an. Doch auch damals lebten die Menschen nur sehr selten in Kleinfamilien oder »Kernfamilien« ohne Anhang. Die normale Familienform des Menschen in Europa und in aller Welt war über Jahrtausende die Großfamilie. Zu einer solchen Familie gehörte ein wesentlicher Teil der Verwandtschaft, gehörten unverheiratete Geschwister und Cousinen, Ammen und Hauspersonal, Mündel und Gesinde. Sowohl Bauern wie Stadtbürger lebten in Clans, nicht anders als viele Naturvölker und Nomaden.
    Der Großbürger- und Großfamiliensohn Friedrich Engels misstraute der Kleinfamilie zutiefst. Er wehrte sich sehr heftig gegen die Idee, ausgerechnet die Kernfamilie sei der arttypische Verband des Menschen. Biologisch sehr interessiert, veröffentlichte er 1884 seine Schrift Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats. Gerade der Umstand, dass die Kleinfamilie ihre Verwandtschaft als ungelöstes Problem außen vor lässt, beweise, dass sie ursprünglich unzweifelhaft aus dieser hervorgegangen sei: »Während die Familie fortlebt, verknöchert das Verwandtschaftssystem, und während dies gewohnheitsmäßig fortbesteht, entwächst ihm die Familie. Mit derselben Sicherheit aber, mit der Cuvier aus den bei Paris gefundenen Marsupialknochen eines Tierskeletts schließen konnte, dass dies einem Beuteltier gehörte und dass dort einst ausgestorbene Beuteltiere gelebt haben, mit derselben Sicherheit können wir aus einem historisch überkommenen Verwandtschaftssystem schließen, dass die ihm entsprechende, ausgestorbene Familienform bestanden hat.« 118

    Selbst wenn Engels’ paläo-zoologische Beweisführung eher amüsant als wissenschaftlich ist – die noch amüsantere Idee der Anthropologin Helen Fisher, die Geburt der Vater-Mutter-Kind-Familie bereits in die vorzeitliche Savanne zu verlegen, ist sicher die seltsamere Vorstellung. Indizien dafür, dass unsere Vorfahren in Kernfamilien lebten, gibt es nicht. Wahrscheinlicher lebten sie in Trupps, den Großfamilien heutiger Jäger- und Sammlergemeinschaften nicht unähnlich. Die Kernfamilie, selbst wenn sie in der Kulturgeschichte gelegentlich aufgetreten sein sollte, war wohl zu keinem Zeitpunkt das Leitmodell menschlicher Gemeinschaften. Möglich wurde sie eigentlich erst durch die moderne Sozialgesetzgebung. Solange die Sippe wirtschaftlich abhängig war vom Einkommen einzelner Männer, musste sie auch mit versorgt werden. Die Kernfamilie dagegen ist ein asoziales Modell, das bedürftige Verwandte und Angehörige finanziell ausschließt. Ein Land ohne Renten und Pensionen, Hinterbliebenenschutz und soziale Auffangnetze konnte und kann sich Kernfamilien nicht leisten.
    Zur Kernfamilie als mehrheitlicher und normativer Familienform kam es erst Mitte des 19. Jahrhunderts und hier auch nur in den Städten. Wenn heute der Katechismus der katholischen Kirche nach einer Festlegung aus dem Jahr 1992 die Kernfamilie als »Urzelle des gesellschaftlichen Lebens« festschreibt, dann ist dies gewiss nicht historisch gemeint. Selbst Maria und Josef waren unverheiratet geblieben. Und überzeugte Katholiken unterstellen Jesus Christus auch keine eheliche Geburt. Urzelle des gesellschaftlichen

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