Liebe
Lebens wurde die Kernfamilie erst aufgrund einer Verlegenheit – dass nämlich das Familienoberhaupt die Sippe nicht mehr ernähren konnte. Im 19. Jahrhundert entstanden aufgrund der industriellen Revolution in den Städten ungezählte proletarische und kleinbürgerliche Familien. Sozial nicht abgesichert, waren sie meist sogar auf Kinderarbeit angewiesen. Und für die Pflege mittelloser Angehöriger fehlte jegliches Geld. Nicht nur die Männer arbeiteten, sondern vielfach
auch die Frauen. Hier liegt der Ursprung der modernen Kernfamilie.
Heiraten aus Liebe waren im 19. Jahrhundert eher selten, und auch die Treue der Männer war weitgehend unwichtig. Vordringlich war die Ehe eine Wirtschaftsgemeinschaft. Erst im Laufe des 20. Jahrhunderts verschmolz die Idee von Liebesheirat und Treuebündnis mit der Idee der Kernfamilie. Seinen ideologischen Höhepunkt erreichte dieses moderne Kernfamilienmodell in Deutschland in den 1930er bis 1960er Jahren; eine Familienidee allerdings, die selbst die so genannten konservativen und bürgerlichen Parteien heute auf keinen Fall wiederbeleben möchten. Ohne die Einwilligung ihres Mannes durfte die Frau nicht arbeiten. Sie durfte nicht einmal ein eigenes Konto eröffnen oder einen Vertrag unterzeichnen. Frauen, die des Straftatbestandes »Ehebruch« überführt worden waren, fielen bei Scheidung in die Mittellosigkeit. Die Vergewaltigung in der Ehe dagegen war straffrei. Für die Liebe zu den Kindern war in der Wirtschaftswunderehe die Mutter zuständig, nicht der Vater. Gemeinsame Unternehmungen der Väter mit den Kindern waren maximal auf das Wochenende beschränkt.
Wenn heute verheiratete Liebespaare in Deutschland Kinder bekommen, stehen sie vor einer anderen Situation. Vom Kindergeld über die Arbeitslosenversicherung bis zur Rente garantiert ihnen der Staat eine Grundsicherheit. Untreue ist nicht mehr strafbar. Und Kinder dienen im Regelfall nicht dem Familieneinkommen, sondern sind zumeist frei gewählter Luxus. Das soziale Netz des Staates hilft den Liebesakrobaten von heute dabei, ihre Sehnsucht nach gemeinsamer Intimität auch auf die Familie auszudehnen. Je weniger an ökonomischem Sinn die Familien heute bestimmt, umso höher ist die Erwartung an den Lebenssinn.
Die Erwartungen an die Familie entsprechen damit weitgehend jenen an die Liebe. Dieser Anspruch ist völlig neu, und damit auch die Rollenerwartungen an Mama und Papa. Familien,
wie sie heute von Liebenden gewünscht und erträumt werden, gab es auf diese Weise noch nie – oder wenn doch, nur in sehr seltenen Ausnahmen. Die Familiengründer erwarten eine weiterhin weitgehend ungetrübte Liebe zueinander bei zusätzlicher beidseitiger Liebe zum Kind oder zu den Kindern. Sie erwarten Aufregung und Anregung sowie Harmonie und Seelenfrieden, nicht anders als in der romantischen Liebe. Und sie erwarten weiterhin fein abgestimmte Erwartungen, uneingeschränktes Verständnis und Gleichberechtigung – Ansprüche, die in den 1950er und 1960er Jahren kaum gestellt wurden.
Der feste Rahmen für all diese Ansprüche ist heute nicht mehr gesellschaftlicher, sondern privater Natur. Denn was eine Ehe und eine Familie zusammenhält, geht den Staat (fast) nichts mehr an. »Eheliche Verpflichtungen« sind heute zivilrechtlich ohne Belang. Seitensprungagenturen machen sich nicht mehr wegen »Kuppelei« strafbar. Ehebrecher(innen) dürften wieder heiraten. Und nichteheliche Väter stehen rechtlich auf nahezu der gleichen Stufe wie geschiedene. Was eine Familie zusammenhält, muss von innen her geleistet werden, der Einfluss der Außenwelt ist weitgehend geschwunden.
Die Folgen dieser Entwicklung sind bekannt: Die Kernfamilie mit verheirateten Ehegatten erscheint heute zwar immer noch als Ideal, in der Realität dagegen ist sie nur noch ein Fall unter vielen möglichen. Nichteheliche Lebensgemeinschaften konkurrieren mit ehelichen, man lebt getrennt zusammen, bildet Wohngemeinschaften mit Kindern, gleichgeschlechtliche Paare erziehen Pflegekinder, Verheiratete und unverheiratete Paare leben in Fernbeziehungen, die »Regenbogenfamilie« führt gleichgeschlechtliche Partner mit Kindern zusammen. Die »binukleare« Familie schließt auch den nicht sorgeberechtigten Partner in der Ferne mit ein. Und die Anzahl der alleinerziehenden Mütter und Väter war noch nie so hoch wie heute.
Dass es gegenwärtig vergleichsweise wenige intakte Kernfamilien gibt, ist nicht nur Folge eines allseits festgestellten »Wertewandels«.
Mag sein,
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