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Liebe

Titel: Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Precht
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dass Selbstverwirklichungsideen, zum Beispiel von berufstätigen Frauen, zu dieser Situation beitragen. Viel wichtiger aber ist, dass wir heute ein Familienideal verwirklichen wollen, das es so eben noch nie gab. Die erträumte Kernfamilie der Gegenwart ist das anspruchsvollste aller denkbaren Familienmodelle: eine Selbstverwirklichungs- und Sinnstiftungsgemeinschaft für jedermann und jede Frau. Dass diese »romantische Familie« mehr ist als nur ein Ideal, muss von jedem Paar jeden Tag neu bewiesen werden. Und diese Aufgabe grenzt immer wieder an Überforderung, frei nach einem auf die Kunst gemünzten Zitat von Karl Valentin: »Familie ist schön – macht aber viel Arbeit.«
    Ein »Zurück« zur Familie gibt es nicht, denn nur die wenigsten wollen tatsächlich zurück zu: Vati arbeitet, und Mutti liebt Kinder und Küche. Sicher hatten die meisten Eltern früher ein schlechteres Leben, dafür aber – möglicherweise – ein besseres Gewissen. Das Ideal der romantischen Familie kehrt dieses Verhältnis um: Ob Kernfamilie oder Patchworkfamilie, wir haben heute mehrheitlich ein besseres Leben, wenn auch – aufgrund unserer Idealvorstellungen – häufig ein schlechteres Gewissen: Sind wir tatsächlich die perfekten Mütter oder Väter, die wir so gerne wären? Haben wir hinreichend Zeit für unsere Kinder? Geben wir ihnen genug Liebe? Stiften wir ihnen in den oft turbulenten und zerrissenen Verhältnissen ausreichend Geborgenheit? Und sind wir bei all dem noch aufregende und verständnisvolle Liebespartner?

Mama & Papa
    Was in der Maske der unfreiwilligen Komik daherkommt, enthält durchaus einen wahren Kern: »Die zum Selbstbewusstsein erwachte Frau der Neuzeit leidet in hohem Maße unter dem
Gegensatz, dass sie ihrer Veranlagung nach nicht nur Einzelwesen, sogar nicht nur an erster Stelle Einzelwesen, sondern vor allem Gattungswesen ist. Das hier Erlernte ertüchtigt sie in der einen wie der anderen Eigenschaft und erwirkt damit den Ausgleich. Es ertüchtigt das Gattungswesen zur Fortpflanzung und das Einzelwesen zu einer Liebe, die tiefste Hingabe verbunden mit höchster Selbstachtung ist.« 119
    Der Mann, der sich in seinem Buch Die vollwertige Gattin. Anleitungen für die Frau und ihre Helfer (1933) über Gattungsfunktion und Liebesbefähigung des schönen Geschlechts Gedanken macht, war der niederländische Arzt und Gynäkologe Theodoor Hendrik van de Velde. Der Titel mit der Vollwertgattin war bereits die Korrektur der ersten Auflage zwei Jahre zuvor. Hier hatte es noch »die vollkommene Gattin« geheißen, ein Attribut, das die arme Ehefrau doch zu sehr versachlichte, wie der Autor selbstkritisch befand.
    Verglichen mit den meisten seiner Zeitgenossen war van de Velde ein fortschrittlicher Mensch. Er sorgte sich um die neuen Herausforderungen der Frauen- und der Männerrolle in der modernen Gesellschaft. Und er mühte sich um einen Sexualratgeber, der die Ehe auch dann noch stabil halten sollte, wenn tatsächlich beide, Frauen wie Männer, etwas davon haben wollten. Fünf Ratgeber – Die vollkommene Ehe, Die Abneigung in der Ehe Die Erotik in der Ehe, Die Fruchtbarkeit in der Ehe und ihre wunschgemäβe Beeinflussung sowie Die vollwertige Gattin – tippte van de Velde innerhalb von nur sechs Jahren in die Schreibmaschine. Er war der Sexualpapst der westlichen Welt und der Oswald Kolle der Weimarer Republik. Als er 1937 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam, zählten seine Eheratgeber mehr als 40 Auflagen. Bereits 1928 hatte van de Velde den Film Die Ehe gedreht; ein Remake folgte noch 1968.
    Van de Veldes sehr modernes Problem – lange vor dem Feminismus und der bundesdeutschen Emanzipationsbewegung der
1970er Jahre – war die Erkenntnis, dass die Frau im 20. Jahrhundert mindestens zwei Rollen in der Ehe zu spielen hatte, und zwar widersprüchliche Rollen. Leidenschaftliche Geliebte des Mannes und treusorgende Mutter ihrer Kinder zu sein machte die Ehefrau zur Dienerin zweier Herren. Als Arzt mühte sich der Niederländer allerdings vorrangig um technische Auswege aus dem Dilemma. So empfahl er Muskeltraining für die Vagina zur Steigerung von Lust und Fortpflanzungsfähigkeit. Der Vielzahl der neuen psychischen Rollen- und Eheprobleme wurde er freilich nicht gerecht.
    Dass die moderne Paarbeziehung, wie van de Velde erkannte, ein Organisationsproblem ist, hat sich seit den 1930er Jahren noch verstärkt; dass es rein technisch oder gar sportlich zu lösen sei, ist ohne Witz kaum noch zu vertreten.

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