Liebe
Selbstenttäuschung wahrnimmt, muss zumindest mit Fremdenttäuschungen rechnen: Die kinderlose beste Freundin ist sanft befremdet, der kinderlose beste Freund fühlt sich als einsamster aller Wölfe.
Der romantische Code wird zu einem familiären Code: Aufregung gegen Eintönigkeit, Geborgenheit gegen Unsicherheit sind auch hier die Pole. Familien bilden ihr eigenes Sinnsystem. Und so wie du in der Familie gesehen wirst, sehen dich die anderen meistens nicht. Diese Beobachtung gilt für Eltern wie für Kinder. Kaum etwas scheint aus unverwüstlicherem Stein gehauen als das Bild, das Eltern und Geschwister von einem haben. Was der Zufall und das Machtgefüge aus Talenten und Eigenschaften in der Familie relativ als Charakter festlegen, erscheint als absolutes Bild. Auch jüngste Kinder und Nesthäkchen werden einmal
alte Menschen, und für den Vergleich an emotionaler, sozialer und rationaler Intelligenz zählen im Leben später ganz andere Menschen als die Geschwister – trotzdem bleiben die alten Bilder gemeinhin familiäre Lebensrollen. Und nichts korrigiert sich schwerer als ein familiäres Klischee.
Familien schaffen neue Verbindlichkeiten in vielerlei Hinsicht. Und Verbindlichkeit erzeugt den Druck der Verantwortung. Im Zeitalter der Individualisierung mit seinen ständigen Wahlzwängen erscheint jede neue Festlegung leicht als Zumutung und Überforderung. Kein Wunder also, dass heute jede dritte Frau kinderlos bleibt. Erschwerend kommt hinzu, dass der Arbeitsmarkt – zumindest in der Bundesrepublik Deutschland – noch immer nicht zureichend auf eine moderne Familie mit doppelt verdienenden Partnern ausgerichtet ist. Wo Ulrich Beck 1990 noch schreiben konnte, dass die Gesellschaft ein »individuelles Versagen, meist der Frauen« diagnostiziert, trifft es heute inzwischen fast genauso die Männer. Der gesellschaftliche und der persönliche Erwartungsdruck in der Beziehung verlangen auch von ihnen, dass sie Arbeitsmarktbiografie und Haushaltsbiografie zusammenbringen, und zwar organisatorisch wie psychisch.
Kein Wunder in solcher Lage, dass gesellschaftliche Vorstellungen und Selbstbilder durcheinandergeraten. In einer unfreiwilligen Parallele zum Single-Ideal der New Economy hatte die Feministin Judith Butler noch in den 1990er Jahren jeder Familie theoretisch den Garaus gemacht. Für die gleichgeschlechtlich orientierte Kulturphilosophin ist bereits die heterosexuelle Romantik ein schwer verzeihliches Übel. Denn die heterosexuelle Tradition der romantischen Liebe lege »Frauen« und »Männer« auf spiegelbildliche Handlungsvorbilder fest. Mit anderen Worten: Die Romantik schafft Rollenklischees in der Liebe und verhindert, dass Frauen und Männer ganz ohne Rollenklischees zu sich selbst und ihrer individuellen Geschlechtlichkeit finden können. So gesehen ist die romantische Kernfamilie dann
auch noch der härteste Zement, der das Rollenklischee endgültig feststampft. Wer Mutter in einer romantischen Kernfamilie ist (die Väter interessieren Butler weniger), der reduziert sich selbst und verzichtet auf all die Möglichkeiten, durch die der Mensch, nach Butler, erst zu sich selbst finden kann: durch das parodistische Spiel mit Erwartungen, durch gezielte Verweigerungen und durch Ausfälle gegen die kulturelle Norm.
Die Ironie dieser Diagnose ist, dass heutige junge Mütter vor allem in den schicken Vierteln der Großstädte die Schraube einfach weitergedreht haben. Mutterschaft ist ein in der Öffentlichkeit vielfach inszeniertes Schaulaufen mit ironischen Untertönen: »Ich bin Mutter, und das ist gut so!« Butler wird hier mit den eigenen Waffen geschlagen. Denn in den Szenevierteln haben wir heute nicht nur eine ambivalente Inszenierung von Mutterschaft, sondern mehr noch die gezielte Verweigerung der Vorgabe, sich nicht wie eine Mutti benehmen zu dürfen: Der Trotz-Feminismus der Gegenwart frisst seine geistigen Mütter. Christian Schuldt zum Beispiel analysiert die Familienszene am Prenzlauer Berg in diesem Sinne als zeitgeistsichere Selbstdarstellung: »Gerade das Berliner Beispiel zeigt..., welche Funktionen das Kinderkriegen heute neben der reinen Fortpflanzung erfüllen kann. So ist das Elterndasein im Szenebezirk Prenzlauer Berg zu einem regelrechten Pop-Phänomen geworden, zu einer Möglichkeit, die eigene Individualität zu inszenieren.« 121
Coole Laufsteg-Muttis und Kinder als Status- und Szenesymbol schaffen Selbstbestätigungswelten, um der »Muttiierung« zu entgehen, sie
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