Liebe
sondern Teil eines weithin akzeptierten Lebensmodells.
Die Vor- und Nachteile von Patchworkfamilien für die Entwicklung der Kinder sind schwer zu untersuchen. Zu unterschiedlich erscheinen die Situationen, zu schlecht vergleichbar die Fälle. Es gibt gelingende und misslingende Patchworkfamilien, konfliktarme und konfliktreiche, nicht anders als bei den Kernfamilien auch. Trennungen der Eltern können Traumata bei den Kindern auslösen und/oder die Familiensituation entspannen. Und der neue Partner oder die neue Partnerin kann eine bessere Besetzung als der Erzeuger oder die Erzeugerin sein – oder auch eine schlechtere. Manchmal stehen Väter und Stiefväter zueinander in scharfer Konkurrenz, manchmal nicht. Manchmal integrieren sich die neu hinzugekommenen Kinder bestens, ein anderes Mal gibt es unausgesetzte Konflikte um Zuteilung, Zuständigkeit und Zuneigung. Die Patchworkfamilie gibt es nicht.
Es gibt Vermutungen, dass Kinder aus Patchworkfamilien leichter Fähigkeiten ausbilden, die Kindern aus Kernfamilien schwerer fallen. Dieser Unterschied ist vor allem deshalb bedeutsam, weil die Kernfamilien im Laufe der letzten Jahrzehnte immer kleiner wurden und oft zu Ein-Kind-Familien geschmolzen sind. Fertigkeiten wie teilen zu können, mit komplizierten sozialen Situationen umzugehen, zu helfen und zu vermitteln, Gefühle zu deuten, vorauszuschauen und die Interessen anderer abzuwägen, werden in Groß- und in Patchworkfamilien leichter trainiert als beim modernen Vater-Mutter-Kind-Modell. Aussagekräftige Langzeitbeobachtungen und umfangreiche Studien zu diesem Thema gibt es bislang allerdings nicht.
Für die romantische Liebe allerdings hat gerade die Patchworkfamilie einige unbestrittene Vorteile. Je mehr Trennungen
heute gesellschaftlich akzeptiert sind und Ehen und Beziehungen halbwegs friedlich auseinandergehen, umso größer werden die Freiräume der Paare. Modelle, bei denen die Kinder ihre Wochenenden und Ferienzeiten mal beim leiblichen Vater und mal bei der leiblichen Mutter verbringen, dienen sowohl den romantischen Interessen der alten wie der neuen Partner. Mögen diese Freiräume auch nicht der Sinn und das Ziel des Patchworkmodells sein, so sind sie immerhin ein schönes Nebenprodukt, mithin also, wenn man so will, ein Spandrel.
Mit der Patchworkfamilie als Normalfall – möglicherweise sogar als zukünftig häufigster Familienform – ändert sich allerdings noch weit mehr. Nicht nur die getrennten Partner bleiben heute psychisch stärker gebunden, auch die Verwandtschaft, allen voran die Großeltern, treten wieder stärker auf die Bildfläche. Nie waren sie so wertvoll wie heute, möchte man meinen, jedenfalls gemessen an den letzten hundert Jahren. Wo alleinerziehende Mütter und Väter Kinder und Beruf miteinander vereinbaren müssen und Patchworkfamilien ihre vielfältigen Interessen arrangieren, erleben Oma und Opa Konjunktur: Sie springen ein, immer öfter, regelmäßig und unverzichtbar. Wenn der Rahmen der Kernfamilie zerbricht, schreibt Karl-Otto Hondrich, »übertragen wir einen anderen Teil in andere Rahmen, auf andere Personen. Es sind vielmehr Eltern, Geschwister, Großeltern, Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen, Jugendfreunde, also altvertraute Personen.« 122 Friedrich Engels’ »verknöcherte Verwandtschaft« wird wieder lebendig.
Die Beobachtung, dass ausgerechnet der Zerfall der Kernfamilien die traditionellen Familienbindungen stärkt, verläuft quer zu den Freund- und Feindlinien der Konservativen wie der Linken. Einerseits ist die »Mehrgenerationenfamilie« ein konservatives und bürgerliches Modell – die Familie vor der Kernfamilie. Wie früher ist sie eine wirtschaftliche Notgemeinschaft, geboren aus einem Mangel der Eltern und Alleinerziehenden an Zeit und Geld. Andererseits aber entsteht die Not heute aus anderen Motiven
heraus: aus der Verbindung von Arbeits- und Haushaltsbiografie und aus den sehr modernen Interessenkonflikten der leiblichen Eltern. Die Großfamilien von heute, die auch Freunde mit einschließen, leben auch nur noch sehr selten unter einem Dach, sondern sie sind »multilokal«, an viele Orte verstreut – die moderne Verkehrstechnik macht es möglich.
William Hamilton, der, wir erinnern uns, die »Gesamtfitness« biologisch verwandter Individuen in den Blickpunkt der Theorie gerückt hatte, kann sich freuen. Heute sorgen Verwandte tatsächlich in einem Maße für den Reproduktionserfolg ihrer Angehörigen wie seit längerer Zeit nicht mehr.
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