Liebe
in gewisser Weise kulturell infiziert. Und mindestens unsere Lust ist ebenso kulturell geprägt wie biologisch. »Je höher es die Stufenleiter der Organismen hinaufgeht«, meinte bereits Ende des 19. Jahrhunderts der russische Philosoph Wladimir Solowjew, »desto mehr verringert sich die Potenz der Vermehrung, während die Kraft der sexuellen Anziehung zunimmt.« 36 Doch wie lässt sich das erklären?
Kultur ist die Fortsetzung der Biologie. In diesem Punkt gibt es keinen Widerstreit. Die entscheidende Frage ist nur: mit welchen Mitteln? Für evolutionäre Psychologen ist Kultur die Fortsetzung der Biologie mit biologischen oder quasi-biologischen Mitteln, für ihre Kritiker ist Kultur die Fortsetzung der Biologie mit anderen Mitteln.
Ein guter Grund für solche anderen Mittel liegt in dem Umstand, dass Menschen seit Jahrtausenden älter werden können als biologisch notwendig. Dies gilt vor allem für Frauen. Gemeinhin
sind sie sexuell länger aktiv, als sie es für den Reproduktionserfolg sein müssten. Doch diese Frauen jenseits von Mitte vierzig kommen in der evolutionären Psychologie gar nicht mehr vor, jedenfalls nicht als sexuelle Wesen; bestenfalls sind sie Großmütter mit aushelfender Brutpflegefunktion. Alles dreht sich allein um die Paarung! In der evolutionären Psychologie gibt es Tonnen von Studien über Studentinnen an US-amerikanischen Colleges, aber kaum eine zur Sexualität von Frauen über Mitte vierzig. Eine solche Umfrage allerdings wäre höchst aufschlussreich, denn es ist anzunehmen, dass sie das bekannte Muster der Sexualpräferenzen stark variiert. Und es würde wohl deutlich, was ohnehin unstrittig ist: Sex ist mehr als die Reproduktion der Gene! Ginge es allein darum, dann müsste das sexuelle Interesse von Frauen jenseits des gebärfähigen Alters sofort verschwinden. Es kann also nicht ganz richtig sein, dass nur unsere Gene uns zum Sex drängen. Denn was drängt uns dann nach dem Ende der Reproduktionsfähigkeit?
Eine zweite Baustelle, für die evolutionären Psychologen das Gerät fehlt, ist die Homosexualität. Kurz gesagt: Für gleichgeschlechtliches Begehren und homosexuelle Liebe fehlt jede biologische Erkenntnis. Homosexualität ist biologisch unsinnig – wie ist sie trotzdem möglich? Die wenigen hoch abenteuerlichen Theorien, um der Homosexualität doch noch einen biologischen Sinn unterzuschieben, können wir hier getrost überspringen. Homosexualität ist weder die Folge von Überpopulation noch soll sie heterosexuellen Männchen weitere Chancen bringen. Von schwulen Lemmingen in Zeiten des Nahrungsmangels hat noch keiner gehört. Und auch die Intelligenz, die bei Bedarf im Handumdrehen Tiere homosexuell werden lässt, muss erst noch erfunden werden. Tatsächlich ist Homosexualität ohne evolutionären Nutzen. Für die meisten evolutionären Psychologen ist sie deshalb auch keine geheimnisvolle Strategie der Natur, sondern schlicht ein Defekt. Sind die egoistischen Gene bei Homosexuellen eingeschlafen oder fehlgepolt? Gibt es vielleicht eine
vererbbare Mutation? Sensationsmeldungen über das mal wieder neu entdeckte »Homo-Gen« gibt es viele; allein es fehlt noch immer jegliches sichere Indiz und auch jeder Beweis. Zu jedem vermeintlichen Homo-Gen findet sich noch immer eine kopfschüttelnde Gegenstudie.
Irgendetwas, so scheint es, hat das mit Kultur zu tun: dass manche Paare keine Kinder wollen, obwohl sie sich diese ohne Zweifel leisten können. Dass Frauen nach der Menopause noch sexuell aktiv sind und dass ungefähr jeder zwanzigste Mann und jede dreißigste Frau homosexuelle Neigungen haben. Schon unsere nächsten Verwandten, so scheint es, entziehen sich ihrem genetischen Auftrag bei vielen Gelegenheiten. Denn je genauer er blickt, umso entgeisterter sieht der evolutionäre Psychologe, wie Schimpansen und Bonobos sich »nicht-fitnessmaximierend« verhalten und damit zu schwer verständlichen Erklärungen herausfordern. Wären wir doch Gorillas! Dann wäre alles so einfach. Schimpansen-Weibchen dagegen bringen es fertig, sich nicht nur mit dem Hordenchef, sondern auch mit rangtieferen Männchen in die Büsche zu schlagen. Und die Bonobo-Frau fragt erst gar nicht: »Wer ist der Stärkste, der von seinen Genen am meisten Begünstigte?« Sie verteilt ihre sexuelle Gunst frei Schnauze nach Sympathie und Gelegenheit.
Was unseren nächsten Verwandten recht ist, ist uns Menschen billig. Dass wir stets auf der Suche nach dem genetisch fittesten – und das heißt nach
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