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Liebe

Titel: Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Precht
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Wirklichkeit beschädigt darunter hervor. Die Folge sind Arroganz und Kulturpessimismus. Mit anderen Worten: Wenn die Theorie nicht der Realität entspricht, müssen entweder viele Menschen gestört sein, oder aber die ganze Menschheit ist inzwischen völlig degeneriert.
    Wenn diese Ansicht vom degenerierten Menschen stimmt, so muss man fragen: Wo und wann war der Normalzustand? Tatsächlich in der Steinzeit? Und was war der Zustand davor? Wo lag der Normalzustand heutiger Elefanten? Beim Mastodon, beim Mammut, beim heutigen afrikanischen Elefanten oder beim asiatischen, oder liegt er gar in der Zukunft? Wer die Steinzeit zum Normalzustand des Menschen erklärt, zu seiner »wahren Natur«, der macht aus einem biologischen Zwischenstand eine Konstante. Doch Evolution kennt keine Konstanten, nur Wandel und Variablen. Wer die Natur richtig verstehen will, der muss einsehen, dass sie sich unausgesetzt verändert; ein Fixpunkt als vermeintlich »wahre Natur« des Menschen ist nirgends in Sicht. Thesen, die den Menschen biologisch festschreiben, sind nicht deshalb unzulänglich, weil sie biologisch sind, sondern sie sind vor allem biologisch unzulänglich.
    Es gibt einen schönen viel zitierten Satz des konservativen katholischen Philosophen Carl Schmitt: »Wer Menschheit sagt, der lügt! Gemeint ist eine strenge Warnung, den Menschen nicht leichtfertig zu verallgemeinern, biologisch wie kulturell. Es ist sicher richtig, dass bestimmte Bereiche im Gehirn des Menschen sich weitgehend in der Steinzeit entwickelt haben. Es ist auch gut möglich, dass sich unser Erbgut seitdem nicht besonders stark verändert hat. Aber es ist leichtsinnig zu glauben, damit all das in der Hand zu halten, was die Entwicklung des Menschen seit der Steinzeit bestimmt hat.

    Das stärkste Störfeuer für solche Ableitungen des menschlichen Verhaltens ist biologischer Natur. Wie im vorigen Kapitel erwähnt, setzen sich im Lauf der Zeit nicht nur die besten körperlichen und psychischen Merkmale durch. Überleben konnte all das, was nicht allzu sehr stört. Sehr vieles auch am Menschen ist (zumindest heute) weitgehend funktionslos und bietet kaum praktischen Vorteil. Wir brauchen weder einen Blinddarm noch Haare unter den Achseln, und Männer brauchen keine Brustwarzen. Manches sind überflüssige, aber nicht allzu sehr störende Relikte aus der Vorzeit; anderes, wie zum Beispiel blaue Augen, sind genetische Defekte, die niemanden zum Aussterben verdammen.
    Ein erheblicher Teil unseres Repertoires unter und über der Bettdecke dient definitiv nicht der Zeugung; erfreulicherweise aber begünstigt es auch nicht unser schnelles Aussterben. Nahezu unser ganzes Verhalten (mit Ausnahme von essen, trinken, schlafen und Zeugung) und nahezu unsere ganze Kultur sind biologisch betrachtet harmlos überflüssig. Doch nur von hier aus, und nicht von ihrer vermeintlichen evolutionären »Funktion« her, lassen sie sich begreifen. »Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden«, seufzte einst der Philosoph Immanuel Kant. Auch nicht durch die Biologie.
    Eine Umwelt, die von Menschen gemacht ist, stellt einige andere Anforderungen an das Gehirn als die, die in der Natur vorgefunden wird. Unterricht in der Schule ist etwas anderes als elementare Orientierung in der Wildnis. Fernsehen wirkt anders auf unser Gehirn als ein Spaziergang im Freien. Bücher zu lesen verlangt andere Fähigkeiten, als etwa einen Faustkeil zu zimmern. Diese Anforderungen sind so groß und so prägend, dass es schwer vorstellbar ist, dass sie sich nicht auch auf unser Erbmaterial auswirken. Die Tatsache, dass dieser Prozess mit den gegenwärtigen Mitteln der Genetik nur schwer beschreibbar ist, bedeutet nicht, dass er nicht stattfindet.

    Das Dogma hatte der deutsche Biologe August Weismann 1883 aufgestellt, als er in seinem Vortrag Über die Vererbung darlegte, dass zwischen Erbmaterial und Umwelt kein Austausch besteht. In jüngster Zeit dagegen wurde zunehmend deutlich, dass unser Verhalten durchaus auf unser Erbmaterial einwirken könnte. Das Zauberwort heißt »Epigenetik«. Dabei geht es um die Erforschung jener Mechanismen, die darüber wachen, welche Erbinformationen bei einem Lebewesen unter welchen Umständen aktiviert werden und welche nicht. Aus dieser Richtung ist noch viel zu erwarten.
    Evolution ist kein Mathematikbuch, kein Rechenheft mit Formeln, die die Natur immer korrekt anwendet, kein generalstabsmäßig geplantes

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