Liebe
Geschlechterrollen gleichzeitig überraschend modern. Denn ohne Zweifel gab es kochende Männer und Frauen in den Fächern Physik und Mathematik. Weininger glaubte nicht an Hirnfurchen und Balken oder an evolutionäre Module. Er glaubte an die Theorie einer grundlegenden Bisexualität von Mann und Frau. Danach trugen jeder Mann und jede Frau mehr oder weniger starke Merkmale des jeweils anderen Geschlechts in sich. So klar die Prinzipien von männlich und weiblich waren, so unklar waren doch die Menschen.
Die Idee dazu stammte von dem Berliner Hals-, Nasen- und Ohrenarzt Wilhelm Fließ, der sich über Weiningers gewaltigen Erfolg überhaupt nicht freute. Der junge Psychologe und Philosoph machte aus Fließens Ansicht eine umfassende Geschlechtertheorie. Danach sei jeder Mensch zwiegeschlechtlich, und nur das Überwiegen des einen oder anderen Teils macht ihn zu einem Mann oder einer Frau. Biologisch waren somit nur die Geschlechtsanlagen, nicht aber die soziale Geschlechterrolle. Ein jeder Mensch, so Weininger, sucht und findet sich in seinem Geschlecht. Und was ich vom anderen Geschlecht sexuell und
emotional begehre, hängt stark davon ab, wie mein eigenes Mischungsverhältnis beschaffen ist. Sehr männliche Männer stehen auf sehr weibliche Frauen, weibliche Männer auf männliche Frauen. Am Ende steht immer ein platonisches Ganzes – das, so Weininger, ist das Gesetz der Anziehung.
Dass Weininger der idiotischen Meinung war, dass beide Geschlechter hart an sich arbeiten sollten, um das »W« – das Weibliche – irgendwann aus der Welt zu verbannen, verschüttete bedauerlicherweise die einzig gute Idee seines Buches: die Trennung von biologischem und sozialem Geschlecht. Danach ist männliches oder weibliches Verhalten abhängig davon, wie wir uns in unsere Geschlechterrolle einfügen, mit einem Begriff des US-amerikanischen Psychologen John William Money aus dem Jahr 1955 – von unserem psychologischen und unserem sozialen Geschlecht (engl. Gender). Und so lustig es klingen mag: Mit der Unterscheidung von biologischer und sozialer Geschlechterrolle bahnte Weininger einer Idee den Weg, die er als völlig sinnlos verteufelt hatte – dem Feminismus!
Wir werden dazu gemacht...!
Der Feminismus hat eine lange Geschichte, und er hatte gewiss nicht auf Otto Weininger gewartet. Gleichwohl wirkte der Österreicher auf paradoxe Weise inspirierend auf die feministische Theorie. Die Geschichte der Frauenbewegung begann spätestens mit der Französischen Revolution und dem Anspruch der Freiheit und Gleichheit für alle Menschen. Alle Menschen – das waren auch Frauen, selbst wenn viele Aufklärer und Revolutionäre das anders sehen wollten. Die Hoffnung auf die Emanzipation der Frau in den patriarchalischen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts verstärkte sich im Zuge der industriellen Revolution. Nicht wenige unter den frühen Frauenrechtlerinnen waren Sozialistinnen.
Wenn Karl Marx den Arbeitern die Gleichheit mit ihren Herren versprach und die Freiheit der Werktätigen durch immer modernere Maschinen, so sollten auch die Frauen davon profitieren. An eine Gleichheit in der psychologischen Rolle freilich wurde noch kaum gedacht. Frauen waren Frauen, und Männer waren Männer. Und das sollte auch so bleiben. Nur die Herrschaft der einen über die anderen gehörte abgeschafft.
Dass allerdings bereits die feste Zuschreibung typisch weiblicher und typisch männlicher Verhaltensweisen den Graben zwischen den Geschlechtern aushob, wurde erst nach Otto Weiningers Hassbuch zum Thema. »Wir werden nicht als Frauen geboren, wir werden dazu gemacht«, schrieb die französische Philosophin und Frauenrechtlerin Simone de Beauvoir 1949 in ihrem Buch Das andere Geschlecht. Die Impulse, die von de Beauvoirs Werk ausgingen, waren gewaltig; was Darwin für die Evolution war, ist de Beauvoir für den Feminismus. Aus einem Sammelsurium angestauter Kritiken und Ideen wurde eine überfällige Theorie. Dass de Beauvoir den irren Weininger gelesen hat, ist allerdings eher unwahrscheinlich; die französische Übersetzung von Geschlecht und Charakter erfolgte erst 1975. Und doch gibt es Sätze, die von beiden hätten stammen können. Für Weininger etwa war »der Phallus das, was die Frau absolut und endgültig unfrei macht«; eine Aussage, die viele Feministinnen unterschreiben würden, wenn auch nicht den Nachsatz: »Das Weib ist unfrei: es wird schließlich immer bezwungen durch das Bedürfnis, vom Manne in eigener Person wie in der aller
Weitere Kostenlose Bücher