Liebe
eingeübten Geschlechterstrategien bestimmen in uns in jedem Fall mit. Die Frage freilich ist, wer uns dabei die Spielregeln unserer sozialen Rolle vorgibt – die Biologie oder die Kultur?
5. KAPITEL
Geschlecht und Charakter
Unsere zweite Natur
Gender
»Er sah immer aus wie nach einer 30-stündigen Eisenbahnfahrt, schmutzig, ermüdet, zerknittert, ging schief und verlegen herum, sich gleichsam an eine unsichtbare Wand drückend, und der Mund unter dem dünnen Schnurrbärtchen quälte sich irgendwie schief herab.« Der Schriftsteller Stefan Zweig mochte den überspannten jungen Mann nicht, aber für viele andere wurde er eine Kultfigur. Sigmund Freud bewunderte sein »ernsthaftes, schönes Gesicht, auf dem ein Hauch von Genialität schwebte«, August Strindberg lobte den »tapferen, männlichen Kämpfer«. Karl Kraus und Kurt Tucholsky fanden lobende Worte, und Adolf Hitler nannte ihn »einen anständigen Juden«.
Otto Weininger wurde 1880 in Wien geboren, schrieb nur ein einziges Buch und wurde gerade einmal 23 Jahre alt. Doch an ihm schieden sich die Geister wie an wenigen anderen. Ein Spinner, ein Psychopath, ein Genie? Sein Werk Geschlecht und Charakter – Eine prinzipielle Untersuchung war eines der am meisten gelesenen Bücher mit wissenschaftlichem Anspruch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. 28 Auflagen waren verkauft, als die Nationalsozialisten die Schrift 1933 verboten. Nicht weil ihnen der Inhalt nicht gefallen hatte, sondern streng nach Schema: Der Verfasser war Jude.
Weininger hatte Philosophie und Psychologie an der Universität
Wien studiert. Sein Ruf war denkbar schlecht, seine Kommilitonen mochten ihn nicht. Im Eiltempo arbeitete er gleichwohl an seiner Doktorarbeit über »Eros und Psyche. Eine biologisch-psychologische Studie«; ein bombastisches Manuskript. Den drohenden Untergang des Abendlandes vor Augen, hatte sich der 22-jährige an einem grenzüberschreitenden Werk über die westliche Zivilisation versucht, einer apokalyptischen Bilanz. Und ausgerechnet Richard Wagners »Parsifal« gab ihm dazu den Schlüssel: die Erkenntnis, dass »der Koitus die Bezahlung« sei, »welche der Mann der Frau für ihre Unterdrückung zu leisten hat.« 40
Männer schlafen nicht mit Frauen, weil sie selbst das wollen. Sie bezahlen das Weib mit ihrer Fruchtbarkeit und halten so den Lauf des Lebens in Gang. Ein widerwärtiges Geschäft, wie der junge Mann fand, das ein schnelles Ende finden müsse: in der absoluten Enthaltsamkeit des Mannes. Mit solchen Erkenntnissen im Gepäck besuchte Weininger den außerordentlichen Titular-Professor Sigmund Freud in der Berggasse. Freud ist hin- und hergerissen zwischen Bewunderung und Skepsis. Weininger reagiert verletzt. Er zieht sich zurück und schreibt das Werk für die Veröffentlichung um. Im Juni 1903 liegt Geschlecht und Charakter in den Buchhandlungen.
Das Machwerk war ein Fanal. Ohne Pardon goss es ungezählte Vorurteile, Klischees und Ressentiments zu Anfang des 20. Jahrhunderts in weltanschaulichen Zement. Sauber und ordentlich teilt es die Welt in Gut und Böse. Das Gute sind Geist, Sittlichkeit und der Verstand, kurz: der Mann. Die Bösen, das sind die Sexualität und das Fleisch, sprich: die Frauen und die Juden. Beide sind minderwertig, von niederen Trieben gesteuert und geistlos geil. Der einzige Weg zum Sieg des Guten liegt in der Überwindung des Jüdisch/Weiblichen durch das »M«-Prinzip. »M« steht für Mann. Und neue Männer braucht die Welt.
Er selbst gehört nicht mehr dazu. Von tiefen und schweren Gedanken erschöpft, schleppt sich Weininger in Beethovens Sterbehaus
in der Schwarzspanierstraße. Ein Portier findet den 23-jährigen am Morgen des 4. Oktober 1903 sterbend mit einer Kugel im Herzen. Er hatte seinem harten Los als Mann selbst ein Ende gesetzt.
Ein Psychopath, der die Frauen fürchtete, ein Verklemmter mit Angst vor der eigenen Sexualität, ein jüdischer Antisemit mit Minderwertigkeitskomplex – ohne Zweifel. Doch was fanden Feingeister wie Karl Kraus und Kurt Tucholsky bloß an diesem Mann? Warum war Sigmund Freud so voll Bewunderung?
Das Spannende an Weininger war seine kühne Brücke zwischen Biologie und Kultur. Im Hinblick auf seine biologisch festgelegten Geschlechterrollen war der verquere Österreicher der erste evolutionäre Psychologe. Stricken und Kochen zum Beispiel waren für ihn nichts anderes als »sekundäre weibliche Geschlechtsmerkmale«. Doch auf eine gewisse Weise waren Weiningers
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