Liebe
sind merkwürdige Tiere. Trompetenschnute, Kulleraugen, Ringelschwanz: Die possierlichen kleinen Fische aus der Familie der Seenadeln sehen nicht nur aus wie eine Caprice der Natur – sie verhalten sich auch so. Gemeinhin leben sie ruhig und gut getarnt in den tropischen und gemäßigten Meeren der Welt. Aber ein paarmal im Jahr bieten sie dem zoologisch interessierten Betrachter ein bizarres Schauspiel. Dann treffen sich Männchen und Weibchen in den frühen Morgenstunden zu einem Stelldichein im Seegras. Als Zeichen ihrer Verbundenheit umringeln sich die Partner mit ihren Schwänzen und üben sich im Synchronschwimmen. Wie eine sanfte Spirale hüpft das Weibchen anschließend vor ihrem Auserwählten auf und ab. Danach spritzt sie ihre Eier in seine Bruthöhle am Bauch. Rasch schließt sich ein Gewebe um die Brut und versorgt sie mit Sauerstoff. Nach etwa zehn bis zwölf Tagen zieht sich das Männchen tief ins Seegras zurück und bringt hier den Nachwuchs zur Welt.
Seepferdchen sind irgendwie anders. Sehr anders. Die evolutionäre Pointe sind die vertauschten Geschlechterrollen. Die Weibchen produzieren zwar die Eier, doch trächtig wird das Männchen. Etwas voreilig könnte man meinen, dass bei Seepferdchen alles genau spiegelverkehrt ist. Das Weibchen »investiert«
in die Brautwerbung, und das Männchen »investiert« in die Brutpflege. Tatsächlich gibt es im Umkreis der Seepferdchenverwandtschaft Seenadeln, bei denen dies auch genau so der Fall ist. Die spektakulärer gefärbten Weibchen rivalisieren darum, wer dem Männchen die Eier auf den Bauch heften darf. Bei Seepferdchen selbst aber liegt die Sache ganz anders: Die Weibchen konkurrieren gar nicht um die Männchen. Das ist umso erstaunlicher, als eine Regel der Evolutionsbiologie besagt: Je intensiver die Brutpflege, umso größer der Aufwand des werbenden Partners. Da die Seepferdchen-Männchen ausgesprochen aufopferungsvolle Brutpflege betreiben, die Seenadel-Männchen dagegen eher nicht, müsste es eigentlich genau umgekehrt sein. Seepferdchen-Weibchen müssten viel stärker um die begehrten Männchen kämpfen als die Weibchen der Seenadeln. Selbst Axel Meyer, Professor für Evolutionsbiologie an der Universität Konstanz und einer der weltweit größten Seepferdchen-Experten, ist ratlos: »Die Beziehung zwischen Elternaufwand und Rollenverhalten ist komplizierter als nach der Hypothese vorausgesagt.« 45
Seepferdchen machen irgendwie alles verkehrt. Die meisten Arten sind augenscheinlich monogam, sie bleiben zusammen, bis dass der Tod sie scheidet. Stirbt der Partner, vergeht ihnen zunächst einmal auch die sexuelle Lust. Für Fische ist dieses Verhalten sehr seltsam. Und beim Westaustralischen Seepferdchen finden auch noch fast immer Paare von ähnlicher Körpergröße zusammen. Kein Partner, so scheint es, sucht einen größeren, »fitteren« Partner, sondern gleich groß und gleich groß gesellt sich gern.
Von Seepferdchen zu lernen bedeutet: Das Sexualverhalten eines Lebewesens hängt nicht unbedingt von seinem Geschlecht ab; entscheidender ist die Rolle, die der oder die Einzelne im Spiel von Sexualität, Fortpflanzung und Brutpflege einnimmt. Und hier, so scheint es, gibt es sehr viele verschiedene Möglichkeiten. Ein biologisches Grundgesetz, das vorschreibt, was
Männchen und was Weibchen immer und unter allen Bedingungen zu tun haben, existiert nicht. Denn Seepferdchen sind kein Einzelfall. Sie teilen ihre umgekehrten Geschlechterrollen zum Beispiel mit Panameischen Giftpfeilfröschen oder Mormonengrillen. So gesehen kann man sagen, dass jedes Geschlechtsverhalten tatsächlich Rolle ist und nicht einfach »Natur«. Einschränkend dagegen wirkt, dass zumindest bei allen der rund 5500 Säugetier- und speziell den über 200 Primatenarten die Weibchen befruchtet werden und den Nachwuchs austragen und niemals die Männchen.
Die geschlechtliche Rolle bei der Brutpflege für den Menschen ist festgeschrieben, zumindest bei jeder Art der natürlichen Fortpflanzung. Gleichsam kulturelle Fortpflanzungsmöglichkeiten, wie die künstliche Befruchtung oder das Einpflanzen eines Embryos in eine Leihmutter, ändern dieses Prinzip nicht grundsätzlich, schaffen aber durchaus neue Brutpflegevarianten.
So selbstverständlich uns die sexuelle Rollenverteilung der Geschlechter beim Menschen erscheint, so schwierig ist es allerdings, ihren tieferen biologischen Sinn zu erfassen. Warum gibt es überhaupt zwei Geschlechter? Ein Rätsel, auf das es bis heute
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