Liebe
Nachkommen lebensgefährlich verlosen, statt die sichere Karte zu spielen?
Versuchen wir es deshalb mit der zweiten Erklärung: Die »Theorie der Roten Königin« ( Red-Queen- Hypothese). Auch sie stammt von einem alten Bekannten, nämlich von William Hamilton. Und auch dieses Muster der Erklärung dürfte uns bekannt vorkommen: Parasiten! Der poetische Name übrigens stammt nicht vom Meister selbst, sondern von dessen Kollegen
Leigh Van Valen von der University of Chicago. Und dieser wiederum entlehnte sie aus dem Roman »Alice hinter den Spiegeln« von Lewis Carroll.
In einer sehr philosophischen Passage erklärt die Rote Königin der fragenden Alice: »Hierzulande musst du so schnell rennen, wie du kannst, wenn du am gleichen Fleck bleiben willst. Nach Hamilton und Van Valen gilt das Gleiche auch für Lebewesen. Eines ihrer größten Probleme, insbesondere für langlebige Organismen, sind Parasiten. Sie vermehren sich atemberaubend schnell und bringen unter Umständen Millionen von Generationen hervor. Je ähnlicher sich zwei Lebewesen sind, umso besser können die Parasiten überspringen und umso leichter finden sie sich auch im jeweils anderen zurecht. Ein ungeschlechtliches Lebewesen hat dem nichts entgegenzusetzen. Es selbst, seine Artgenossen und auch alle künftigen Generationen sind den Parasiten hilflos ausgeliefert. Im schlechtesten Fall stirbt die ganze Population im Handumdrehen aus. Nicht so aber bei Lebewesen, die sich sexuell vermehren. Hier weichen alle Nachkommen voneinander ab, und der Nährboden für die Parasiten ist schwieriger. Und während die Parasiten sich mühsam anpassen, ist das Wirtstier bereits dabei, sich erneut sexuell fortzupflanzen und die Lebensgrundlagen seiner Feinde zu erschweren. In ihrem inzwischen sattsam bekannten Kriegsjargon reden manche Biologen hier gerne von einem »Wettrüsten«.
Der Erhalt einer Spezies, so die Idee der Rote-Königin-Theorie, ist abhängig von ihrer Wandelbarkeit: Nur wer sich ändert, bleibt sich treu. Ob dies ein gutes Argument ist, dazu gibt es viele Meinungen. Zunächst einmal lässt sich feststellen, dass viele ungeschlechtliche Tiere oder Tiere mit ungeschlechtlichen Fortpflanzungsmöglichkeiten trotz Parasiten offensichtlich schon sehr lange gut überlebt haben und keinen Nachteil erkennen lassen. Dann kann man fragen, ob Tiere mit sehr langsamen Fortpflanzungszyklen, wie zum Beispiel Menschen, Wale oder Elefanten, tatsächlich mit ihren Parasiten Schritt halten können,
zumindest was die Übertragung von einem Tier auf das andere anbelangt. Und zuletzt könnte man der Natur die Frage stellen, warum eigentlich so wenige Lebewesen die Mischlösung des »sowohl als auch« praktizieren. Die erwähnten Komodo-Warane paaren sich in der Natur sexuell. Ist kein Männchen zur Hand, wie zum Beispiel im Zoo, geht es zur Not auch durch Jungfernzeugung. Hat dieses eher seltene Modell denn nicht unter dem Strich den allergrößten Vorteil?
Die Antwort auf all diese Fragen wird wesentlich einfacher, wenn man bei beiden Fortpflanzungstheorien, »Ufergestrüpp« und »Rote Königin«, den gleichen Denkfehler sieht, der schon bei der Theorie von der natürlichen Auslese der »Fittesten« auffiel: Die Natur ist kein Star-Architekt, der stets nach der besten Lösung sucht! Phänomene wie die sexuelle Fortpflanzung müssen nicht deshalb entstanden sein, weil sie einen Vorteil boten, der größer war als ihr Nachteil. Die Entstehung von nicht brutpflegefähigen Männchen (oder Weibchen wie beim Seepferdchen) kann auch ein Zufall gewesen sein, der am Ende nicht so sehr geschadet hat, dass er zum Aussterben der Art führte. Aber einen höheren Nutzen braucht es deshalb nicht zu geben. Die stete Suche nach dem Nutzen in der Biologie ist, wie gesagt, ein Erbe der Theologie, die in der Natur die beste aller möglichen Welten erkennen wollte, um Gott nicht in Misskredit zu bringen, aufgepeppt mit einer Portion allzu missverständlich angewendeter Wirtschaftstheorie.
Das skurrilste aller Argumente für die Zweigeschlechtlichkeit ist übrigens, dass eingeschlechtliche Lebewesen stets primitiv geblieben sind und sich nicht weiter zu neuen und spektakuläreren Formen entwickelten. 3, 3 Milliarden Jahre evolutionärer Stillstand, wenn man so will. Schon richtig, aber was ist daran schlecht? Aus welcher Perspektive argumentieren wir, wenn wir dies anprangern? Warum ist Formenvielfalt ein Wert an sich? Wer hat die Millionen neuer Arten vermisst, bevor der gordische Knoten
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