Lieben: Roman (German Edition)
war, nein, sie war greifbar und konkret, sie bewegte sich in diesem Moment in nur einem Kilometer Entfernung.
Was ist das bloß für ein Wahnsinn, dachte ich im Gehen. Ich war verheiratet, uns ging es gut, wir wollten in Kürze gemeinsam eine Wohnung kaufen. Dann kam ich hierher und wollte auf einmal alles über Bord werfen?
Das wollte ich.
Ich ging unter den sonnengefleckten Schatten der Laubbäume, umgeben von den warmen Gerüchen des Waldes, und dachte, dass ich mich mitten im Leben befand. Nicht Leben als Alter, nicht auf halber Strecke auf der Straße des Lebens, sondern mitten in der Existenz.
Mein Herz bebte.
Es kam der letzte Abend. Wir waren im größten Raum versammelt, Wein und Bier standen auf Tischen, es gab eine Art Abschiedsfest. Plötzlich landete ich neben Linda, sie wollte eine Flasche Wein öffnen und legte ihre Hand auf meine, strich flüchtig darüber, sah mir dabei in die Augen. Es stand fest, es war entschieden, sie wollte mich haben. Den restlichen Abend
dachte ich immer nur daran, während ich langsam immer betrunkener wurde. Linda und ich würden ein Paar werden. Ich musste nicht wieder nach Bergen zurückfahren, konnte alles dort zurücklassen und mit ihr hier zusammen sein.
Gegen drei Uhr nachts, als ich so betrunken war wie selten zuvor, nahm ich sie mit nach draußen. Ich sagte ihr, ich müsse ihr etwas erzählen. Und dann erzählte ich es. Was ich für sie empfand und was ich mir überlegt hatte.
Sie sagte:
»Ich mag dich. Du bist ein toller Typ. Aber ich bin nicht interessiert an dir. Es tut mir leid. Aber deinen Kumpel, den finde ich fantastisch. An dem bin ich interessiert. Verstehst du?«
»Ja«, sagte ich.
Ich drehte mich um und überquerte den Platz und nahm gleichzeitig wahr, wie sie hinter mir in die entgegengesetzte Richtung ging, zum Fest zurückkehrte. Unter den Bäumen vor der Eingangstür stand eine Gruppe zusammen. Arve gehörte nicht dazu, so dass ich zurückging, ihn fand und ihm erzählte, was Linda mir gesagt hatte, dass sie an ihm interessiert war, jetzt konnten sie ein Paar werden. Aber sie interessiert mich nicht, verstehst du. Ich habe eine fantastische Freundin. Tut mir jedenfalls leid für dich, sagte er, und ich erwiderte, ich bräuchte ihm nicht leidzutun, und ging erneut über den Platz, wie in einem Tunnel, in dem es außer mir nichts gab, an der Gruppe vor dem Haus vorbei, durch den Flur und in mein Zimmer, wo auf dem Schreibtisch leuchtend mein Notebook stand. Ich riss den Stecker heraus, klappte es zu, ging ins Bad, griff nach dem Glas, das auf dem Waschtisch stand und knallte es mit voller Wucht gegen die Wand. Ich wartete kurz, um zu hören, ob jemand reagierte. Dann hob ich den größten Splitter auf, den ich finden konnte, und begann, mein Gesicht aufzuritzen. Ich ging systematisch vor, versuchte, die Schnitte
möglichst tief zu machen und deckte das gesamte Gesicht ab. Kinn, Wangen, Stirn, Nase, Kinnunterseite. Zwischendurch wischte ich mit dem Handtuch immer wieder Blut ab. Schnitt weiter. Wischte Blut ab. Als ich schließlich zufrieden war mit meinem Werk, war für weitere Schnitte kaum noch Platz, und ich ging ins Bett.
Schon lange vor dem Aufwachen wusste ich, dass etwas Schreckliches passiert war. Mein Gesicht brannte und schmerzte. Als ich schließlich erwachte, fiel mir im selben Moment wieder ein, was passiert war.
Das überlebe ich nicht, dachte ich.
Ich sollte heimreisen, mich mit Tonje auf dem Quartfestival treffen, wir hatten vor einem halben Jahr zusammen mit Yngve und Kari Anne ein Hotelzimmer reserviert. Es war unser Urlaub. Sie liebte mich. Und dann tat ich so etwas.
Ich schlug mit der Faust auf die Matratze.
Und dann auch noch die ganzen Leute hier.
Sie würden meine Schande sehen.
Ich konnte es nicht verbergen. Alle würden es sehen. Ich war gebrandmarkt, ich hatte mich selbst gebrandmarkt.
Ich sah das Kissen an. Es war voller Blut. Ich tastete mein Gesicht ab. Es war völlig zerfurcht.
Außerdem war ich immer noch betrunken und schaffte es nur mit knapper Not aufzustehen.
Ich zog die schweren Vorhänge auf. Licht strömte ins Zimmer. Auf dem Rasen draußen saß eine ganze Gruppe, umgeben von Rucksäcken und Koffern, die Abreise stand unmittelbar bevor.
Ich schlug mit der geballten Faust gegen das Kopfende des Betts.
Ich musste mich der Sache stellen. Es gab keinen Ausweg. Ich musste mich der Sache stellen.
Ich packte meinen Koffer, das Gesicht brannte, und in meinem
Inneren loderte eine so große Scham,
Weitere Kostenlose Bücher