Lieben: Roman (German Edition)
wie ich sie nie zuvor empfunden hatte.
Ich war gebrandmarkt.
Ich nahm den Koffer in die Hand und ging hinaus. Anfangs sah mich keiner an. Dann schrie jemand auf. Daraufhin schauten mich alle an. Ich blieb stehen.
»Die Sache tut mir leid«, sagte ich. »Entschuldigt.«
Linda saß auch dort. Sie sah mich mit großen Augen an. Dann begann sie zu weinen. Ein paar andere weinten auch. Jemand trat zu mir und legte mir die Hand auf die Schulter.
»Ist schon okay«, sagte ich. »Ich war gestern nur unglaublich betrunken. Es tut mir leid.«
Es herrschte vollkommene Stille. Ich zeigte mich, wie ich war, und es wurde still.
Wie sollte ich das nur überleben?
Ich setzte mich und zündete mir eine Zigarette an.
Arve sah mich an. Ich versuchte zu lächeln.
Er kam zu mir.
»Was zum Teufel hast du da bloß angerichtet?«, sagte er.
»Ich war einfach nur total betrunken. Ich erzähle es dir später. Aber nicht jetzt.«
Ein Bus kam, fuhr uns zum Bahnhof, wir stiegen in den Zug. Das Flugzeug ging erst am nächsten Tag. Ich wusste nicht, wie ich die Zeit bis dahin überstehen sollte. In Stockholm starrten mich die Leute auf der Straße an und machten einen Bogen um mich. Die Scham brannte in mir, brannte und brannte, und es führte kein Weg aus ihr heraus, ich musste in ihr verweilen, durchhalten, durchhalten, und eines Tages würde es dann vorbei sein.
Wir gingen nach Södermalm. Die anderen hatten verabredet, sich mit Linda zu treffen, wir dachten auf dem Platz, von dem ich heute weiß, dass er Medborgarplatsen heißt, während er damals einfach nur ein Platz war, und als wir dort
standen, kam sie mit dem Fahrrad vorbei und wunderte sich, dass wir dort waren, denn wir wollten uns doch auf dem Nytorget treffen, das ist da hinten, sagte sie und sah mich nicht an, sie sah mich nicht an, und das war gut so, denn ihr Blick wäre mehr gewesen, als ich hätte ertragen können. Wir aßen Pizza, die Stimmung war seltsam, hinterher saßen wir auf dem Rasen, eine Menge Vögel hüpften um uns herum, und Arve erklärte, er glaube nicht an den Teil der Evolutionstheorie, in dem es um das Recht des Stärkeren gehe, denn seht euch die Vögel an, sie tun nicht nur, was sie tun müssen, sondern auch, wozu sie Lust haben, was ihnen Freude bereitet. Freude wird unterschätzt, sagte Arve, und ich wusste, dass er zu Linda sprach, denn ich hatte ihm gesagt, was sie mir gesagt hatte, getan, worum sie gebeten hatte, die beiden würden ein Paar werden, das wusste ich.
Ich kehrte früh in die Pension zurück, die anderen blieben noch, um einen trinken zu gehen. Ich sah fern, es war unerträglich, aber ich stand den Abend durch und schlief schließlich mit einem leeren Bett neben mir ein. Arve kam in dieser Nacht nicht zurück, am Morgen fand ich ihn schlafend im Treppenhaus. Ich fragte ihn, ob er bei Linda gewesen sei, er sagte nein, sie sei früh nach Hause gegangen.
»Sie hat geweint und wollte nur über dich reden«, sagte er. »Ich habe mit Thøger getrunken. Das habe ich getan.«
»Ich glaube dir kein Wort«, erwiderte ich. »Du kannst es mir ruhig sagen, es macht mir nichts aus, ihr seid jetzt zusammen.«
»Nein«, sagte er. »Du irrst dich.«
Als wir am Vormittag des nächsten Tages in Oslo landeten, sahen mich die Leute weiterhin an, obwohl ich eine Sonnenbrille trug und das Gesicht senkte, so gut es ging. Ich hatte mich vor langer Zeit mit Alf von der Hagen vom Rundfunk für ein Interview verabredet und sollte zu ihm nach Hause
kommen, denn es war ein längeres Gespräch geplant, wir würden einige Zeit benötigen. Also musste ich zu ihm. Unterwegs dachte ich, dass mir alles scheißegal war und ich auf all seine Fragen exakt das sagen würde, was mir in den Sinn kam.
»Großer Gott«, sagte er, als er die Tür öffnete. »Was ist passiert?«
»Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht«, sagte ich. »Ich war nur sehr betrunken. Kann schon mal vorkommen.«
»Können wir das Interview machen?«, sagte er.
»Klar. Mir geht es gut. Ich sehe nur nicht so gut aus.«
»Nein, weiß Gott nicht.«
Als Tonje mich sah, brach sie in Tränen aus. Ich sagte ihr lediglich, ich sei schrecklich betrunken gewesen, sonst sei nichts passiert. Was ja auch stimmte. Auch auf dem Festival drehten sich die Leute nach mir um, und Tonje weinte viel, aber es wurde allmählich besser, und was mich so gepackt hatte, mich nicht loslassen wollte, lockerte langsam, aber sicher seinen Griff. Wir sahen Garbage, es war ein fantastisches Konzert, Tonje sagte, dass
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