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Lieben: Roman (German Edition)

Lieben: Roman (German Edition)

Titel: Lieben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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dem Boot in die Schären hinaus. Mieteten ein Häuschen in der Nähe einer Jugendherberge. Liefen stundenlang über die Insel, schlugen uns tief in den Wald hinein, wo alles nach Kiefern und Heidekraut roch, gelangten unvermittelt auf einen steil abfallenden Felshang hinaus: Unter uns lag das Meer. Wir gingen weiter, kamen auf eine Wiese, blieben stehen und sahen Kühe an, die unsere Blicke erwiderten, wir lachten, fotografierten uns gegenseitig, kletterten auf einen Baum, saßen darin wie zwei Kinder und unterhielten uns.
    »Ich sollte einmal«, setzte ich an, »für meinen Vater an der Tankstelle Zigaretten kaufen gehen. Sie lag zwei Kilometer von zu Hause entfernt. Ich war ungefähr sieben oder acht Jahre alt. Der Weg dorthin führte durch den Wald. Ich kannte ihn in- und auswendig. Übrigens kenne ich ihn immer noch in- und auswendig. Aber plötzlich hörte ich ein Rascheln im
Unterholz. Ich blieb stehen und guckte in die Richtung des Geräuschs. Daraufhin sah ich einen fantastischen, großen und bunten Vogel. So etwas hatte ich noch nie gesehen, er sah aus, als käme er aus einem fernen und exotischen Land, aus Afrika, Asien. Er lief fort, flog auf und verschwand. Seit damals habe ich nie wieder einen solchen Vogel gesehen und niemals herausgefunden, welche Art es gewesen sein könnte.«
    »Ist das wahr?«, sagte Linda. »Mir ist nämlich einmal haargenau das Gleiche passiert. Im Sommerhaus bei einer Freundin. Ich saß auf einem Baum, also wie jetzt, und wartete darauf, dass meine Freunde zurückkommen würden, wurde ungeduldig und sprang hinunter. Ging los, völlig ziellos und sah plötzlich einen bunten und fantastischen Vogel. Ich habe ihn seither auch nie mehr gesehen.«
    »Ist das wahr?«
    »Ja.«
    So war es, alles ergab einen Sinn, und unsere Leben verflochten sich miteinander. Auf dem Heimweg von der Insel sprachen wir darüber, wie unser erstes Kind heißen sollte.
    »Wenn es ein Junge wird«, sagte ich, »könnte ich mir gut einen einfachen Namen vorstellen. Ola hat mir schon immer gefallen, was hältst du davon?«
    »Der ist schön«, sagte sie. »Sehr norwegisch, das gefällt mir.«
    »Ja«, sagte ich und schaute aus dem Fenster.
    Ein kleines Boot schaukelte heran. Das Kennzeichen auf der Seite war OLA.
    »Sieh mal«, sagte ich.
    Linda lehnte sich vor.
    »Damit ist es entschieden«, sagte sie. »Wir nennen ihn Ola!«
     
    Als wir eines späten Abends den Anstieg zu meiner Wohnung hinaufgegangen waren, noch immer mitten in der ersten, fiebrigen Phase unserer Beziehung, hatte sie nach längerem Schweigen gesagt:
    »Karl Ove, es gibt da etwas, was ich dir sagen muss.«
    »Ja?«, sagte ich.
    »Ich habe einmal versucht, mich umzubringen.«
    »Was sagst du da?«
    Sie antwortete nicht, schaute zu Boden.
    »Ist das lange her?«, sagte ich.
    »Ungefähr zwei Jahre. Als ich in der Klinik war.«
    Ich sah sie an, sie wollte meinen Blick nicht erwidern, ich ging zu ihr und umarmte sie. Lange blieben wir so stehen. Dann gingen wir die Treppe hoch und in den Aufzug, ich schloss die Wohnungstür auf, sie setzte sich aufs Bett, ich öffnete das Fenster, und die Geräusche der Spätsommernacht stiegen zu uns hoch.
    »Möchtest du einen Tee?«, sagte ich.
    »Danke, gern«, antwortete sie.
    Ich ging zur Küchenzeile und stellte den Wasserkocher an, holte zwei Tassen heraus und legte in beide einen Teebeutel. Als ich ihr die eine Tasse reichte und stehen blieb und vor dem offenen Fenster an der anderen nippte, erzählte sie mir, was damals geschehen war. Ihre Mutter hatte sie im Krankenhaus abgeholt, sie wollten zu ihrer Wohnung, um ein paar Sachen zu holen. Als sie in die Nähe der Wohnung gekommen waren, lief Linda los. Ihre Mutter rannte ihr hinterher. Linda lief so schnell sie konnte, durch die Haustür, die Treppen hinauf, in die Wohnung, zum Fenster. Als ihre Mutter nur Sekunden später hereinstürzte, hatte Linda das Fenster geöffnet und war auf den Sims geklettert. Ihre Mutter lief durchs Zimmer, und als Linda springen wollte, bekam sie ihre Tochter zu fassen und riss sie zurück.
    »Ich bin völlig ausgeflippt«, sagte sie. »Ich glaube, ich wollte sie umbringen. Ich ging auf sie los. Wir haben uns zehn Minuten geprügelt. Ich habe den Kühlschrank auf sie gekippt. Aber sie war stärker. Natürlich war sie stärker. Am Ende saß sie breitbeinig auf meiner Brust, und ich gab auf. Sie rief die Polizei, die mich abholte und ins Krankenhaus zurückfuhr.«
    Es wurde still. Ich sah sie an, flüchtig wie ein Vogel

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