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Lieben: Roman (German Edition)

Lieben: Roman (German Edition)

Titel: Lieben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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begegnete sie meinem Blick.
    »Ich schäme mich so dafür«, sagte sie, »aber ich habe gedacht, dass du es irgendwann erfahren musst.«
    Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Zwischen dem Ort, an dem sie damals gewesen war, und dem, an dem wir uns heute befanden, tat sich ein Abgrund auf. Jedenfalls empfand ich es so. War das für sie vielleicht nicht so?
    »Warum hast du das getan?«, sagte ich.
    »Ich weiß es nicht. Ich glaube, es war mir auch damals nicht klar. Aber ich erinnere mich an den Verlauf. Gegen Ende des Sommers war ich wochenlang manisch gewesen. Eines Abends kam Mikaela zu mir nach Hause, da hockte ich auf dem Küchentisch und brabbelte Zahlen vor mich hin. Sie und Öllegård brachten mich in die psychiatrische Ambulanz. Dort gaben sie mir Schlaftabletten und fragten, ob ich ein paar Tage bei Mikaela bleiben könne. Danach lösten sich die Phasen den ganzen Herbst über ab. Und dann rutschte ich in eine so schwere Depression, dass ich wusste, aus der führt kein Weg mehr heraus. Ich ging all meinen Bekannten aus dem Weg, weil ich nicht wollte, dass einer von ihnen der letzte sein würde, der mich lebend gesehen hatte. Die Therapeutin, zu der ich ging, fragte mich, ob ich an Selbstmord denken würde, woraufhin ich einfach nur in Tränen ausbrach, und daraufhin meinte sie, dass sie die Verantwortung für mich zwischen unseren Therapiesitzungen nicht mehr übernehmen könne, und ich wurde eingewiesen. Ich habe das Aufnahmeprotokoll gesehen.
Von einer Frage, die man mir stellt, bis zu meiner Antwort vergehen Minuten, steht darin, und daran erinnere ich mich, es war mir fast unmöglich zu sprechen. Unmöglich, etwas zu sagen, die Worte lagen so weit entfernt. Alles lag so weit entfernt. Mein Gesicht war ganz starr, es gab keine Mimik mehr darin.«
    Sie schaute zu mir hoch. Ich setzte mich aufs Bett, sie stellte ihre Tasse auf den Tisch und legte sich auf den Rücken. Ich legte mich neben sie. Es gab eine Schwere in der Dunkelheit draußen, eine Art Fülle, die der Sommernacht fremd war. Unten an der Riddarfjärden ratterte ein Zug über die Brücke.
    »Ich war tot«, sagte sie. »Es war nicht so, dass ich mir wünschte, das Leben zu verlassen. Ich hatte es bereits verlassen. Als die Therapeutin meinte, ich müsse eingewiesen werden, war ich erleichtert, denn dann würde sich ja jemand um mich kümmern. Aber als ich ankam, war alles unmöglich. Ich konnte dort nicht bleiben. Und daraufhin begann ich, die Sache zu planen. Meine einzige Chance, aus der Klinik zu kommen, war ein Freigang tagsüber, um in meiner Wohnung Kleider und Ähnliches zu holen. Jemand musste mich begleiten, und die Einzige, die mir einfiel, war meine Mutter.«
    Sie verstummte.
    »Aber wenn ich es wirklich gewollt hätte, dann hätte ich es auch geschafft. Das denke ich heute. Ich hätte das Fenster doch gar nicht öffnen müssen. Ich hätte mich doch durch die Scheibe werfen können. Es hätte ja im Grunde keinen Unterschied gemacht. Gerade diese Vorsicht … ja, hätte ich es wirklich, von ganzem Herzen gewollt, dann hätte es auch geklappt.«
    »Ich bin froh, dass es anders gekommen ist«, sagte ich und strich ihr durchs Haar. »Hast du Angst, dass es wieder passieren könnte?«
    »Ja.«
    Es entstand eine Pause.
    Die Frau, die mir das Zimmer vermietete, räumte etwas auf der anderen Seite der Tür. Auf der Dachterrasse über uns hustete jemand.
    »Ich nicht«, sagte ich.
    Sie wandte mir den Kopf zu.
    »Du nicht?«
    »Nein. Ich kenne dich.«
    »Nicht alles an mir.«
    »Das ist mir durchaus bewusst«, sagte ich und küsste sie. »Aber das wird sich niemals wiederholen, da bin ich mir sicher.«
    »Dann bin ich mir dessen auch sicher«, sagte sie, lächelte und schlang ihre Arme um mich.
     
    Die endlosen Sommernächte, so hell und offen, in denen wir zwischen verschiedenen Bars und Cafés in unterschiedlichen Stadtteilen in schwarzen Taxis umherglitten, alleine oder in Gesellschaft anderer, in denen der Rausch nicht bedrohlich, nicht destruktiv, sondern eine Welle war, die uns höher und höher hob, begannen langsam und unmerklich dunkler zu werden, als würde der Himmel an die Erde gekettet, und das Leichte und Flüchtige bekam immer weniger Spielraum, es wurde von etwas gefüllt und festgehalten, bis die Nacht schließlich stillstand, eine Wand aus Dunkelheit, die sich am Abend herabsenkte und am Morgen hob, und die leichte, sich hin und her werfende Sommernacht ließ sich plötzlich nicht mehr vergegenwärtigen, ganz ähnlich wie

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