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Lieben: Roman (German Edition)

Lieben: Roman (German Edition)

Titel: Lieben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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eilte im Laufschritt zu Lindas zehn Minuten entfernt liegender Wohnung. Als ich sie am nächsten Tag abholte, um mit ihr in einem Café zu frühstücken, erzählte Mutter, dass sie das Licht im Hausflur nicht gefunden hatte und es ihr deshalb erst nach einer Stunde gelungen war, in die Wohnung zu gelangen.
    »Das Licht ging aus, als ich auf halbem Weg die Treppe hoch war«, sagte sie. »Von selbst. Ich konnte nichts mehr sehen.«
    »Das sind die Schweden, sie sparen Strom«, sagte ich. »Sie verlassen ein Zimmer nie, ohne vorher das Licht auszuschalten. Und in allen öffentlichen Räumen gibt es automatische
Zeitschalter. Aber warum hast du das Licht nicht wieder eingeschaltet, wenn ich fragen darf?«
    »Es war doch zu dunkel, um den Schalter zu sehen.«
    »Aber die Schalter leuchten doch«, sagte ich.
    »Ach, die haben so geleuchtet!«, sagte sie. »Ich dachte, das wäre der Feueralarm oder etwas in der Art.«
    »Und was ist mit deinem Feuerzeug?«, sagte ich.
    »Ja, das ist mir dann am Ende auch eingefallen. Ich war so verzweifelt, dass ich mich wieder hinunter getastet habe, um eine zu rauchen, als es mir plötzlich einfiel. Daraufhin bin ich wieder hochgegangen, habe das Schloss damit beleuchtet und bin hineingekommen.«
    »Das ist mal wieder typisch für dich«, sagte ich.
    »Mag sein«, erwiderte sie. »Aber es ist ein anderes Land, deshalb ist es passiert. Die kleinen Dinge sind eben anders.«
    »Und was hältst du von Linda?«
    »Sie ist wirklich ein prächtiges Mädchen«, antwortete sie.
    »Ja, nicht wahr?«, sagte ich.
    Es war nicht selbstverständlich, dass sie das sagte. Nun ja, ich bezweifelte nicht, dass sie in der Lage sein würde, Linda zu mögen, es ging vielmehr darum, dass ich noch vor kurzem in einer so langen Beziehung, ja sogar verheiratet gewesen war. Tonje hatte zur Familie gehört, so war es nun einmal. Obwohl wir unsere Beziehung beendet hatten, waren Mutters Gefühle für sie nicht verschwunden. Yngve tat es leid, dass sie nicht mehr da war, und Mutter vielleicht auch. Ende des Sommers, nachdem Tonje und ich unsere Sachen aufgeteilt hatten, es war überhaupt nicht traumatisch gewesen, wir waren nett zueinander, und ein an Trauer erinnerndes Gefühl übermannte mich ein einziges Mal, als ich im Keller stand und etwas holen wollte und plötzlich aufschluchzte – wir hatten ein gemeinsames Leben gehabt, jetzt war es vorbei –, nach den Tagen dort, die so konfliktfrei verlaufen waren, fuhr ich mit
unserer Katze, die Mutter übernehmen sollte, zu ihr nach Jølster hinaus. Bei der Gelegenheit erzählte ich ihr von Linda. Es war deutlich spürbar, dass ihr das gegen den Strich ging, aber sie sagte nichts. Eine halbe Stunde später ließ sie eine Bemerkung fallen, die mich veranlasste, sie prüfend anzuschauen. Es sah ihr so gar nicht ähnlich, so etwas zu sagen. Sie meinte, ich hätte keinen Blick für andere Menschen, ich sei vollkommen blind und sehe überall nur mich selbst. Dein Vater, sagte sie anschließend, sah bis ins tiefste Innere anderer Menschen. Er sah augenblicklich, wer sie waren. Das hast du nie getan. Nein, sagte ich, mag sein.
    Sie hatte sicher Recht, aber das war nicht so wichtig, entscheidend war zum einen, dass sie meinen Vater, diesen schrecklichen Menschen, über mich gestellt hatte, zum anderen, dass sie dies getan hatte, weil sie wütend auf mich war. Und das war neu, denn Mutter war nie wütend auf mich.
    Damals waren Linda und ich noch im Hellen, und sie musste gesehen haben, dass ich vor Verliebtheit und Lebensfreude strahlte.
    In Stockholm, ein gutes halbes Jahr später, war alles anders. Meine Seele war zermartert, und unsere Beziehung so klaustrophobisch und finster, dass ich aus ihr ausbrechen wollte, aber das konnte ich nicht, dazu war ich zu schwach, ich dachte an sie, hatte Mitleid mit ihr, ohne mich würde sie untergehen, ich war zu schwach, ich liebte sie.
    Dann kamen die Mittagessen im Haus des Films, bei denen wir uns, eifrig und gestikulierend, über alles Mögliche unterhielten, oder zu Hause in der Wohnung oder in den Cafés, es gab so viel zu sagen, es galt so viel abzudecken, nicht nur mein Leben und ihr Leben, wie sie gewesen waren, sondern auch unser Leben, wie es jetzt war, und mit all den Menschen, die es bevölkerten. Früher war ich stets tief in mir selbst gewesen, hatte die Menschen von dort aus betrachtet, wie aus dem
hintersten Winkel eines Gartens. Linda zog mich da heraus, bis zum äußersten Rand meiner selbst, wo alles nah war und

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