Lieben: Roman (German Edition)
alles stärker wirkte. Dann kamen die Filme in der Cinemathek, die Nächte in der Stadt, die Wochenenden bei ihrer Mutter in Gnesta, die Stille im dortigen Wald, wo sie manchmal wie ein kleines Mädchen aussah und sich so verletzlich zeigte, wie sie war. Dann kam die Fahrt nach Venedig, sie schrie , dass ich sie nicht liebte, immer und immer wieder schrie sie es. An den Abenden betranken wir uns und liebten uns mit einer Wildheit, die neu und fremd und auch beängstigend war, nicht während es geschah, aber am nächsten Tag, wenn ich daran zurückdachte und es mir vorkam, als wollten wir uns auch wehtun. Als sie abgereist war, hatte ich kaum noch die Kraft hinauszugehen, ich hockte in der Mansarde meiner Wohnung, versuchte zu schreiben und schaffte es mit Müh und Not, mich die wenigen hundert Meter zum Lebensmittelgeschäft und zurück zu schleppen. Die Mauern waren kalt, die kleinen Gassen leer, die Kanäle voller sargähnlicher Gondeln. Was ich sah, war tot, was ich schrieb, wertlos.
Als ich dort eines Tages saß, allein in der kalten italienischen Wohnung, fiel mir wieder ein, was Stig Sæterbakken an jenem Abend gesagt hatte, an dem Linda und ich ein Paar wurden. Dass er in seinem nächsten Roman versuchen wolle, mehr wie ich zu schreiben.
Plötzlich brannte ich vor Scham.
Seine Worte waren ironisch gemeint gewesen, und ich hatte es nicht begriffen.
Ich hatte geglaubt, er würde sie wirklich MEINEN.
Oh, wie sehr musste man von sich eingenommen sein, um so etwas zu glauben? Verdammt, wie idiotisch konnte man nur sein? Gab es dafür denn gar keine Grenzen?
Ich stand rasch auf, eilte die Treppen hinunter, zog Mantel und Schuhe an und hetzte eine Stunde entlang der Kanäle
durch die Gassen, während ich versuchte, die Schönheit des schmutzigen tiefgrünen Wassers, der uralten Mauern, die Pracht in dieser schiefen und ruinierten Welt, die gigantische Selbstverbitterung einzudämmen, die es durch die Erkenntnis von Sæterbakkens Ironie immer wieder schaffte, über mir zusammenzuschlagen.
Auf einem großen Platz, auf den man völlig unvermittelt gelangte, setzte ich mich und bestellte einen Kaffee, zündete mir eine Zigarette an und dachte schließlich, dass die Sache vielleicht doch nicht so schlimm war.
Ich hob die kleine Tasse an die Lippen, mit Zeige- und Mittelfinger, die im Vergleich zu dieser fast monströs groß wirkten, lehnte mich auf dem Stuhl zurück und blickte zum Himmel hoch. In dem labyrinthischen Netz aus Straßen und Kanälen nahm ich ihn nie wahr, es war ein wenig, als wandelte man in der Unterwelt. Wenn die engen Straßen sich zu größeren und kleineren Plätzen öffneten und sich plötzlich der Himmel über den Häuserdächern und Kirchtürmen spannte, war es jedes Mal aufs Neue eine Überraschung. So war es, in der Tat: Der Himmel existiert! Die Sonne existiert! Dann kam es mir vor, als würde auch ich offener, heller, leichter.
Wenn ich recht sah, konnte Sæterbakken durchaus geglaubt haben, dass auch meine begeisterte Antwort ironisch gemeint gewesen war.
Später im Herbst sanken die Temperaturen abrupt, alle Gewässer und Kanäle in Stockholm froren zu, an einem Sonntag gingen wir von Södermalm aus über das Eis zur Altstadt, ich humpelte voran wie der Glöckner von Notre Dame, sie lachte und machte Bilder von mir, ich machte Bilder von ihr, alles war scharf und klar, auch meine Gefühle für sie. Wir ließen die Fotos entwickeln und sahen sie uns in einem Café an, liefen von dort nach Hause, um uns zu lieben, liehen uns
zwei Filme aus, kauften eine Pizza, lagen den ganzen Abend im Bett. Es war einer der Tage, an die ich mich immer erinnern werde, in erster Linie vielleicht, weil das Alltägliche und Triviale vergoldet wurde.
Es wurde Winter, und er kam mit Schneegestöber über der Stadt. Weiße Straßen, weiße Dächer und alle Geräusche gedämpft. Als wir eines Abends draußen waren und ziel- und sinnlos durch all das Weiß gingen und uns, vielleicht aus alter Gewohnheit, dem Felsen näherten, an dessen Kamm die Bastugatan entlang führte, fragte sie mich, wo ich eigentlich Weihnachten feiern wolle. Ich sagte, zu Hause, bei meiner Mutter in Jølster. Das wolle sie auch. Ich erwiderte, das gehe nicht, das sei noch zu früh. Warum war das zu früh? Das verstehst du schon. Nein, das verstehe ich nicht. Dann eben nicht.
Die Sache eskalierte. Wütend saßen wir im Bishop’s Arms mit Bieren vor uns und schwiegen. Zum Ausgleich bestand mein Weihnachtsgeschenk für sie in einer
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