Lieben: Roman (German Edition)
nicht, um zusammenzubleiben, so dass sie sich bald darauf scheiden ließen, und kurz danach wurde er zum ersten Mal krank. Er litt an der Krankheit des Grenzenlosen, sie ließ ihn zwischen den Höhen des Manischen und dem Abgrund des Depressiven pendeln, und als sie ihn einmal in ihrem Griff hatte, ließ sie ihn nie mehr los. Seither war er immer wieder in der Psychiatrie gewesen. Als ich ihm im Frühjahr 2004 zum ersten Mal begegnete, hatte er seit Mitte der siebziger Jahre nicht mehr gearbeitet. Linda war ihm viele Jahre nicht begegnet. Obwohl ich Bilder von ihm gesehen hatte, war ich dennoch nicht darauf vorbereitet, was mich erwartete, als ich die Tür öffnete und er vor mir stand. Sein Gesicht war vollkommen offen, als gäbe es zwischen ihm und der Welt nichts. Er stand ihr gänzlich schutzlos gegenüber, war wehrlos, und es schmerzte tief in meinem Herzen, das zu sehen.
»Du bist Karl Ove?«, sagte er.
Ich nickte und gab ihm die Hand.
»Roland Boström«, sagte er. »Lindas Vater.«
»Ich habe schon viel von dir gehört«, sagte ich. »Komm rein!«
Hinter mir stand Linda mit Vanja im Arm.
»Hallo, Papa«, sagte sie. »Das ist Vanja.«
Er stand ganz still und sah Vanja an, die genauso still lag und seinen Blick erwiderte.
»Ooh«, sagte er. Seine Augen waren feucht.
»Ich nehme dir den Mantel ab«, sagte ich. »Dann trinken wir drinnen Kaffee.«
Sein Gesicht war offen, aber seine Bewegungen waren steif und fast mechanisch.
»Ihr habt gestrichen?«, sagte er, als wir ins Wohnzimmer kamen.
»Ja«, sagte ich.
Er trat ganz nah an die nächstgelegene Wand heran und starrte sie an.
»Hast du hier gestrichen, Karl Ove?«
»Ja.«
»Gute Arbeit! Wenn man streicht, muss man sehr sorgfältig sein, und das bist du gewesen. Weißt du, ich streiche nämlich auch gerade meine Wohnung. Das Schlafzimmer türkis, das Wohnzimmer cremeweiß. Aber weiter als bis zur hinteren Wand des Schlafzimmers bin ich noch nicht gekommen.«
»Toll«, sagte Linda. »Das wird sicher schön.«
»Ja, das wird schön, da bin ich mir sicher.«
Linda hatte etwas an sich, was ich bei ihr nie zuvor gesehen hatte. Sie stellte sich auf ihn ein, war in gewisser Weise unter ihm, war sein Kind, schenkte ihm ihre Aufmerksamkeit und ihre Gegenwart, aber gleichzeitig war sie auch über ihm, und zwar in Gestalt der Beschämung, die sie die ganze Zeit zu verbergen
suchte, ohne es ganz zu schaffen. Er setzte sich auf die Couch, und ich goss Kaffee ein und holte die Platte mit den Zimtschnecken, die wir am Morgen gekauft hatten, aus der Küche. Er aß schweigend. Linda saß mit Vanja auf dem Schoß neben ihm. Sie zeigte ihm ihr Kind, aber dass ihr dies so viel bedeuten würde, hatte ich vorher nicht geahnt.
»Die Zimtschnecken sind gut«, sagte er. »Und der Kaffee schmeckt auch gut. Hast du den gekocht, Karl Ove?«
»Ja.«
»Habt ihr eine Kaffeemaschine?«
»Ja.«
»Das ist gut«, sagte er.
Pause.
»Ich wünsche euch alles Gute«, fuhr er dann fort. »Linda ist meine einzige Tochter. Ich bin dankbar und froh, dass ich euch besuchen darf.«
»Möchtest du ein paar Bilder sehen, Papa?«, sagte Linda. »Von Vanjas Geburt?«
Er nickte.
»Halt Vanja mal kurz«, sagte sie zu mir. Ich bekam den kleinen, warmen Klumpen, der mittlerweile auf der Schwelle zum Schlaf blinzelte, in die Arme gelegt, und Linda stand auf und ging das Fotoalbum aus dem Regal holen.
»Mhm«, sagte er bei jedem Bild.
Als sie das ganze Album durchgesehen hatten, streckte er die Hand nach der Kaffeetasse auf dem Tisch aus, hob sie mit einer bedächtigen, fast sorgsam durchdachten Bewegung an den Mund und nahm zwei große Schlucke.
»Ein einziges Mal bin ich in Norwegen gewesen, Karl Ove«, sagte er. »In Narvik. Ich stand bei einer Fußballmannschaft im Tor, und wir waren dort, um gegen eine norwegische Mannschaft zu spielen.«
»Aha!«, sagte ich.
»Ja«, sagte er und nickte.
»Karl Ove hat auch Fußball gespielt«, meinte Linda.
»Das ist lange her«, sagte ich. »Und es war auf einem nicht besonders hohen Niveau.«
»Hast du im Tor gestanden?«
»Nein.«
»Nein.«
Pause.
Er trank einen weiteren Schluck in dieser umständlichen, irgendwie akribisch geplanten Weise.
»Ja, ja, das ist wirklich nett gewesen«, sagte er, als die Tasse wieder auf ihrer Untertasse stand. »Aber jetzt muss ich wohl langsam sehen, dass ich wieder nach Hause komme.«
Er stand auf.
»Aber du bist doch gerade erst gekommen!«, sagte Linda.
»Ich bin lange genug bei euch gewesen«,
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