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Lieben: Roman (German Edition)

Lieben: Roman (German Edition)

Titel: Lieben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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wie wenig ich normalerweise wirklich fühlte, wie abgestumpft ich inzwischen war. Mit achtzehn war ich unablässig von solchen Gefühlen erfüllt gewesen, die Welt wirkte stärker, und genau deshalb wollte ich schreiben, das war der einzige Grund, ich wollte daran rühren, woran die Musik rührte. Die Trauer und die Klage, die Wonne und die Freude der menschlichen Stimme, all das, womit uns die Welt füllte, wollte ich zum Leben erwecken.
    Wie hatte ich das vergessen können?
    Ich legte die Hülle weg und stellte mich ans Fenster. Was hatte Rilke noch geschrieben? Dass die Musik ihn aus sich selbst heraushob und niemals dort zurücklegte, wo sie ihn gefunden hatte, sondern tiefer, irgendwo im Unfertigen?
    Er dürfte dabei nicht an Country-Musik gedacht haben…
    Ich lächelte. Vor mir trat Linda aus der Tür.
    »Jetzt schläft sie«, flüsterte sie, zog den Stuhl heraus und setzte sich. »Oh, toll!«
    »Es ist bestimmt schon ein bisschen kalt«, sagte ich und setzte mich ihr gegenüber an den Tisch.
    »Das macht doch nichts«, sagte sie. »Ich fang schon mal an, ja? Ich habe einen Mordshunger.«
    »Tu das«, sagte ich, schenkte mir ein Glas Wein ein und gab ein paar Kartoffeln auf meinen Teller, während sie sich Fleisch und Gemüse nahm.
    Sie erzählte ein wenig von den Projekten der anderen in ihrem Seminar, deren Namen ich kaum kannte, obwohl es nur sechs waren. Als sie ihr Studium begann, war das anders gewesen, denn damals sah ich die anderen regelmäßig, sowohl oben im Haus des Films als auch in diversen Örtlichkeiten, an denen sie sich trafen. Der Altersdurchschnitt in der Gruppe war verhältnismäßig hoch, die Leute waren Ende zwanzig
und bereits etabliert. Einer von ihnen, Anders, spielte in Doktor Kosmos mit, ein anderer, Özz, war ein bekannter Comedian. Aber als Linda mit Vanja schwanger wurde, pausierte sie ein Jahr, und als sie das Studium wiederaufnahm, kam sie in eine neue Gruppe, und ich hatte keine Lust, mich mit ihren Kommilitonen zu beschäftigen.
    Das Fleisch war butterweich. Der Rotwein schmeckte nach Erde und Holz. Lindas Augen glänzten im Kerzenlicht. Ich legte Messer und Gabel auf dem Teller ab. Es war kurz nach acht.
    »Soll ich mir jetzt die Doku anhören?«, sagte ich.
    »Du brauchst nicht, wenn du nicht willst«, sagte Linda. »Morgen reicht auch noch.«
    »Aber ich bin neugierig«, erwiderte ich. »Und sie ist doch nicht lang, oder?«
    Sie schüttelte den Kopf und stand auf.
    »Dann hole ich den Rekorder. Wo willst du sitzen?«
    Ich zuckte mit den Schultern.
    »Da, vielleicht?«, sagte ich und nickte zu dem Stuhl vor dem Bücherregal. Sie brachte mir den DAT-Rekorder, ich holte Stift und Papier, setzte mich und zog den Kopfhörer auf, sie sah mich fragend an, ich nickte, und sie drückte auf Play.
    Nachdem sie den Tisch abgeräumt hatte, blieb ich alleine sitzen und lauschte. Die Geschichte ihres Vaters kannte ich bereits, aber es war etwas völlig anderes, sie aus seinem Munde zu hören. Er hieß Roland und war 1941 in einer Stadt in Nordschweden geboren worden. Er wuchs ohne Vater mit seiner Mutter und zwei jüngeren Geschwistern auf. Die Mutter starb, als er fünfzehn war, und von da an trug er die Verantwortung für seine kleineren Geschwister. Die drei wohnten allein, Erwachsene waren nur in Gestalt einer Frau einbezogen, die vorbeischaute, um zu waschen und für sie zu kochen. Er besuchte vier Jahre die höhere Schule, machte einen Abschluss
als graduierter Ingenieur, begann zu arbeiten und spielte in seiner Freizeit Fußball als Torhüter der örtlichen Fußballmannschaft, es ging ihm gut dort oben. Bei einer Tanzveranstaltung lernte er Ingrid kennen, die genauso alt war wie er. Sie hatte die Hauswirtschaftsschule besucht, arbeitete mittlerweile als Sekretärin in der Verwaltung der Eisenerzgrubengesellschaft und war ungewöhnlich schön. Die beiden wurden ein Paar und heirateten. Ingrid träumte allerdings von einer Karriere als Schauspielerin, und als sie in Stockholm einen Platz an der Schauspielschule bekam, ließ Roland sein gesamtes früheres Leben zurück und zog mit ihr in die Hauptstadt. Das Leben, das sie dort erwartete, als Schauspielerin am Königlichen Dramatischen Schauspielhaus, hatte ihm nichts zu bieten, zwischen dem Dasein als Torhüter und Ingenieur in einer nordschwedischen Kleinstadt und dem als Mann einer schönen Schauspielerin an der wichtigsten Bühne des Landes tat sich ein Abgrund auf. Sie bekamen kurz hintereinander zwei Kinder, aber das reichte

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