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Lieben: Roman (German Edition)

Lieben: Roman (German Edition)

Titel: Lieben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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späten Nachmittag geschlossen wurden, erstarb das Leben in den Straßen. Die Leute, die hier abends unterwegs waren, wollten in eines der Lokale, von denen es in diesem Viertel so viele gab. Hier Kinder aufwachsen zu lassen, war undenkbar. Hier gab es nichts für sie.
    Ich stellte die Platte aus und legte die kleinen weißen Pilze, die nun braune Flecken bekommen hatten, in die Schüssel. Sie war weiß mit einem blauen Rand und hatte über diesem
einen weiteren Rand aus Gold. Sie war nicht besonders schön, aber ich hatte sie mitgenommen, als Yngve und ich das Wenige unter uns aufteilten, was uns Vater hinterlassen hatte. Er musste sie von dem Geld angeschafft haben, das er bekam, als er sich scheiden ließ und Mutter ihm seinen Anteil an dem Haus in Tveit abkaufte. Damals erwarb er alles für den Haushalt auf einen Schlag, und etwas daran, dass alles, was er besaß, aus derselben Zeit stammte, entzog den Sachen jegliche Bedeutung, sie hatten keine Aura außer frischer Bürgerlichkeit und Unverbundenheit. Für mich war es anders; Vaters Sachen, die außer diesem Service aus einem Fernglas und einem Paar Gummistiefeln bestanden, halfen mir, ihn in Erinnerung zu behalten. Allerdings nicht klar und deutlich, es war eher eine Art beiläufige Feststellung, dass auch er zu meinem Leben gehörte. In Mutters Haus spielten die Dinge eine ganz andere Rolle. So gab es dort eine Plastikwanne, die sie irgendwann in den Sechzigern gekauft hatten, als die beiden Studenten waren und in Oslo wohnten, und die irgendwann in den Siebzigern einmal zu nahe an einem Feuer gestanden hatte und deshalb an der Seite in einem Muster geschmolzen war, in dem ich als Kind das Gesicht eines Mannes mit Augen, gekrümmter Nase und verzerrtem Mund zu erkennen meinte. Es war bis heute die Wanne , die sie benutzte, wenn sie wusch, und bis heute sah ich das Gesicht, wenn ich sie hervorholte und mit Wasser füllte, und nicht die Wanne. In den Kopf des armen Kerls wurde erst heißes Wasser und anschließend Seifenpulver geschüttet. Der Kochlöffel, mit dem sie im Haferbrei rührte, war noch der, mit dem sie in dem Brei gerührt hatte, solange ich denken konnte. Die braunen Teller, von denen wir frühstückten, wenn ich bei ihr war, waren noch dieselben wie früher, als ich in den siebziger Jahren mit baumelnden Beinen in der Küche in Tybakken auf dem Schemel gesessen und gefrühstückt hatte. Die neuen Dinge, die sie angeschafft hatte, reihten
sich zwischen die anderen ein und gehörten ihr, anders als bei Vaters Dingen, die alle austauschbar waren. Der Pfarrer, der ihn beerdigte, war in seiner Ansprache hierauf eingegangen, denn er sagte, dass man den Blick auf etwas richten, sich in der Welt verankern müsse, und meinte damit, dass mein Vater dies nicht getan hatte, womit er vollkommen Recht hatte. Aber es vergingen Jahre, bis ich begriff, dass es auch viele gute Gründe gab, einfach loszulassen, sich an nichts zu halten, sich bloß immer weiter fallen zu lassen, bis man schließlich am Grund zerschellte.
    Was hatte der Nihilismus, der in dieser Weise alle Gedanken ansaugte?
    Im Schlafzimmer fing Vanja an zu schreien. Ich steckte den Kopf zur Tür hinein und sah, dass sie die Hände um die Gitterstäbe geschlossen hatte und aus Frustration auf und ab hüpfte, während Linda im Laufschritt zu ihr eilte.
    »Das Essen ist fertig«, sagte ich.
    »Typisch!«, meinte sie, hob Vanja heraus, legte sich mit ihr aufs Bett, hob den Pullover auf der einen Seite der Brust an und löste den Cup des BHs. Vanja verstummte augenblicklich.
    »In ein paar Minuten schläft sie wieder«, sagte Linda.
    »Ich warte«, sagte ich und kehrte in die Küche zurück. Schloss das Fenster, schaltete die Dunstabzugshaube aus, nahm die Schüsseln und trug sie durch den Flur ins Wohnzimmer, um die beiden nicht zu stören. Ich goss Mineralwasser in ein Glas, trank es im Stehen und schaute mich dabei um. Ein bisschen Musik wäre vielleicht nicht verkehrt. Ich stellte mich vor die CD-Regale. Zog die Emmylou Harris-Anthology heraus, die wir in den letzten Wochen oft gehört hatten, und legte sie auf. Wenn man vorbereitet war oder sie nur als Hintergrundmusik laufen ließ, war es leicht, sich gegen diese Musik zu wehren, denn sie war schlicht, unkompliziert und sentimental, aber wenn ich wie jetzt unvorbereitet war oder wirklich
hinhörte, traf sie mich. Jäh stiegen Gefühle auf, und ehe ich mich versah, standen mir Tränen in den Augen. Erst in Augenblicken wie diesen wurde mir bewusst,

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