Lieben: Roman (German Edition)
war die wichtigste Leistung der Moderne. Davor waren Bilder wie Braques und Hockneys undenkbar gewesen. Blieb die Frage, ob dies den Preis wert war, wenn man alles andere bedachte, was sie für die Kunst mit sich brachte.
Das Café, in dem ich stand, gehörte zur Kunsthalle Liljevalchs, deren Rückseite die vierte und letzte Wand des Gartencafés bildete, und der Säulengang, zu dem die Treppe hinaufführte, war ein Teil von ihr. Zuletzt hatte ich dort eine Andy Warhol-Ausstellung gesehen, deren Qualität sich mir nicht erschlossen hatte, ganz gleich, welchen Blickwinkel ich auch wählte. Das machte mich zu etwas Rückwärtsgewandtem und Reaktionärem, was ich keinesfalls sein und auf gar keinen Fall vor mir hertragen wollte. Aber was konnte ich dagegen tun?
Die Vergangenheit ist nur eine von vielen möglichen Zukunften, pflegte Thure Erik zu sagen. Nicht das Vergangene musste man vermeiden und außer Acht lassen, sondern das Erstarrte an ihr. Für die Zukunft galt das Gleiche. Und wenn die Beweglichkeit, die von der Kunst kultiviert wurde, unbeweglich war, dann war sie es, die man vermeiden und außer Acht lassen musste. Nicht weil sie modern war, auf der Seite unserer Zeit, sondern weil sie sich nicht bewegte, und somit tot war.
»Lammfrikadellen und Geflügelsalat?«
Ich wandte mich um. Ein junger Mann mit Pickeln, Kochmütze und Schürze stand mit einem Teller in jeder Hand hinter der Theke und schaute sich um.
»Ja, hier«, sagte ich.
Ich platzierte die Teller auf dem Tablett und trug sie durch
das Lokal zu unserem Tisch, an dem Linda mit Vanja auf dem Schoß saß.
»Sie ist wach geworden?«, sagte ich.
Linda nickte.
»Ich kann sie nehmen«, sagte ich. »Dann kannst du essen.«
»Danke«, sagte sie.
Mein Angebot entsprang nicht Selbstlosigkeit, sondern Eigennutz. Linda war häufig unterzuckert und wurde immer gereizter, je länger dieser Zustand andauerte. Nach drei Jahren des Zusammenlebens nahm ich die Signale wahr, lange bevor sie selbst etwas merkte, es waren Details, eine jähe Bewegung, ein leicht verfinsterter Blick, eine gewisse Knappheit in den Antworten. Dann brauchte man ihr lediglich etwas zu essen vorzusetzen, und es ging vorbei. Ehe ich nach Schweden kam, hatte ich von diesem Phänomen noch nie gehört, ahnte nicht einmal, dass es so etwas wie Unterzuckerung gab, begriff nicht, was los war, als ich es das erste Mal an Linda bemerkte. Warum antwortete sie der Bedienung denn so gereizt? Warum nickte sie nur kurz und sah dann weg, wenn ich sie etwas fragte? Geir meinte, das Phänomen, weit verbreitet und Gegenstand zahlreicher Artikel, rühre daher, dass alle Schweden in den Kindergarten gegangen seien und dort über den Tag verteilt so genannte »Zwischenmahlzeiten« bekommen hatten. Ich war gewöhnt, dass man sauer wurde, weil etwas schiefgelaufen war oder jemand etwas Beleidigendes sagte, also aus mehr oder weniger sachlichen Gründen, und dass die Laune kleinerer Kinder davon geprägt wurde, ob sie hungrig waren oder nicht. Offensichtlich musste ich noch viel über die Wirkungsweise des menschlichen Geistes lernen. Oder ging es womöglich um den schwedischen Geist? Den weiblichen Geist? Den Geist der kulturschaffenden Mittelschicht?
Ich hob Vanja hoch und ging einen der Kinderstühle an der Eingangstür holen. Mit dem Mädchen in der einen und
dem Stuhl in der anderen Hand kehrte ich zurück, zog ihr die Mütze, den Overall und die Schuhe aus und setzte sie hinein. Ihre Haare waren zerzaust, das Gesicht schläfrig, aber in ihren Augen gab es ein Funkeln, das Hoffnung auf eine ruhige halbe Stunde machte.
Ich schnitt ein paar Bissen von den Buletten ab und legte sie vor ihr auf den Tisch. Sie versuchte, sie in einer einzigen Bewegung wegzuwischen, aber der Rand des Plastiktisches stoppte sie. Ehe sie dazu kam, nach ihnen zu greifen und sie einzeln fortzuwerfen, legte ich sie auf meinen Teller zurück. Bückte mich und durchwühlte die Wagentasche, um dort etwas zu finden, was sie für ein paar Minuten beschäftigen würde.
Eine Butterbrotdose aus Blech, konnte die etwas für sie sein?
Ich holte die Kekse heraus und legte sie auf den Tischrand, stellte die Dose anschließend vor sie und zog meine Schlüssel heraus, die ich hineinwarf.
Etwas, das klimperte und sich herausholen und wieder hineinlegen ließ, war genau das, was sie benötigte. Zufrieden mit mir setzte ich mich bequemer hin und begann zu essen.
Das Café ringsum war von Stimmengewirr, klirrendem Besteck, vereinzelten
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