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Lieben: Roman (German Edition)

Lieben: Roman (German Edition)

Titel: Lieben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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gedämpften Lachern erfüllt. In der kurzen Zeit seit unserem Eintreffen hatte es sich fast bis zum letzten Platz gefüllt. An den Wochenenden waren immer viele Menschen auf Djurgården unterwegs, und so war es seit mehr als hundert Jahren. Es gab dort nicht nur große und schöne Parks, an manchen Stellen eher Wald als Park, es lagen auch eine Menge Museen hier draußen. Die Thielska-Galerie mit der Todenmaske Nietzsches und ihren Gemälden von Munch, Strindberg und Hill; Waldemarsudde, die frühere Wohnstatt des Künstlerprinzen Eugen, das Nordische Museum, das Biologische Museum und natürlich Skansen mit seinem Zoo aus nordischen Tieren und Gebäuden aus der gesamten schwedischen
Geschichte, alles entstanden in jener fantastischen Epoche Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts mit ihrer eigentümlichen Mischung aus Bürgerlichkeit, Nationalromantik, Gesundheitsfanatismus und Dekadenz. Geblieben war davon lediglich der Gesundheitsfanatismus; von allem anderen, vor allem der Nationalromantik, distanzierte man sich scharf, denn heute war nicht mehr der einzigartige Mensch das Ideal, sondern der gleiche, und nicht die einzigartige Kultur, sondern die multikulturelle, so dass alle Museen hier draußen im Grunde Museen von Museen waren. Dies galt insbesondere natürlich für das Biologische Museum, in dem man nichts verändert hatte, seit es Anfang des vorigen Jahrhunderts erbaut worden war, und das damals wie heute dieselbe Ausstellung zeigte, verschiedene ausgestopfte Tiere in einer scheinbar natürlichen Umgebung, vor Hintergründen, die der große Tier-und Vogelmaler Bruno Liljefors gestaltet hatte. Damals gab es noch riesige Gebiete mit Leben, das der Mensch nicht beeinflusst hatte, so dass die Nachbildung sich nicht aus Notwendigkeit ergab, sondern weil sie Wissen vermittelte, und der Blick, der dadurch auf unsere Zivilisation geworfen wurde, dass nämlich alles ins Menschliche geholt werden sollte, aber nicht aus Not, sondern aus Lust, aus Durst, und dass diese Wissenslust und dieser Wissensdurst, der die Welt erweitern wollte, sie gleichzeitig kleiner machte, auch physisch, wohingegen das, was damals nur begonnen hatte und deshalb auffällig, nunmehr vollendet war, führte dazu, dass ich bei jedem meiner Besuche dort am liebsten geweint hätte. Die Tatsache, dass die Menschenströme entlang der Kanäle und auf den Kieswegen, auf den Rasenflächen und in den Wäldchen an den Wochenenden im Prinzip dieselben waren wie Ende des 19. Jahrhunderts, verstärkte mein Gefühl noch: Wir waren wie sie, nur noch verlorener.
    Vor mir blieb ein Mann in meinem Alter stehen. Er kam
mir bekannt vor, ohne dass ich hätte sagen können, warum. Er hatte ein kräftiges, vorspringendes Kinn und einen rasierten Schädel, um zu übertünchen, dass er eine Glatze bekam. Er hatte dicke Ohrläppchen, und auf seiner Gesichtshaut lag ein schwachrosa Schimmer.
    »Ist der Stuhl hier frei?«, sagte er.
    »Ja, natürlich«, antwortete ich.
    Er hob ihn vorsichtig an und trug ihn zum Nebentisch, an dem zwei Frauen und ein Mann über sechzig mit einer Frau Anfang dreißig und ihren beiden kleinen Kindern zusammensaßen. Eine Familie unterwegs mit den Großeltern.
    Vanja stieß einen dieser fürchterlichen Schreie aus, die in den letzten Wochen aufgetaucht waren. Aus vollem Hals schrie sie. Er bohrte sich direkt in mein Nervensystem und war unerträglich. Ich sah sie an. Die Dose und die Schlüssel lagen neben ihrem Stuhl auf dem Boden. Ich hob sie auf und legte beides vor sie. Vanja nahm sie in die Hände und warf sie wieder herunter. Es hätte ein Spiel sein können, wenn es den nachfolgenden Schrei nicht gegeben hätte.
    »Nicht schreien, Vanja«, sagte ich. »Bitte.«
    Ich stach die Gabel in die letzte halbe Kartoffel, fast gelb auf dem weißen Teller, und hob sie zum Mund. Während ich kaute, sammelte ich die restlichen Bissen der Frikadellen auf dem Teller, schob sie mit dem Messer auf die Gabel, zusammen mit ein paar Zwiebelstreifen aus dem Salat, schluckte und hob die volle Gabel erneut zum Mund. Der Mann, der den Stuhl geholt hatte, ging mit dem älteren Mann zur Theke, in dem ich den Vater seiner Frau vermutete, da sich nichts von den markanten Zügen seines Gesichts in dem eher unscheinbaren Gesicht des älteren Mannes wiederfinden ließ.
    Wo hatte ich ihn schon einmal gesehen?
    Vanja schrie erneut.
    Sie ist nur ungeduldig, das ist nichts, worüber man sich aufregen
muss, dachte ich, während in meiner Brust der Zorn

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