Lieben: Roman (German Edition)
versuchte, etwas zu sagen, aber bevor sie das erste Wort herausbrachte, ging ich von Neuem auf sie los.
»JETZT SEHEN SIE VERDAMMT NOCHMAL ZU, DASS SIE LAND GEWINNEN!«, schrie ich. »WENN SIE NOCH EINMAL AN UNSERE TÜR KOMMEN, RUFE ICH DIE POLIZEI.«
Gleichzeitig kam eine Frau mittleren Alters die Treppe hoch. Sie wohnte in der Etage über uns. Als sie vorbeiging, sah sie zu Boden. Trotzdem eine Zeugin. Vielleicht flößte das der Russin neuen Mut ein, denn sie blieb stehen.
»VERSTEHEN SIE NICHT, WAS ICH SAGE? SIND SIE TOTAL BESCHEUERT? HAUEN SIE AB, SAGE ICH. GEHEN SIE! GEHEN SIE!«
Bei den letzten Worten trat ich noch einen Schritt auf sie zu. Sie drehte sich um und ging die Treppe hinunter. Nach zwei Schritten drehte sie sich wieder zu mir um.
»Das wird Folgen haben«, sagte sie.
»Das ist mir scheißegal«, sagte ich. »Was meinen Sie, wem
man eigentlich glauben wird? Einer einsamen, trinkenden Russin oder einem glücklichen Paar mit einem kleinen Kind?«
Damit schloss ich die Tür und ging hinein. Linda stand im Türrahmen zum Wohnzimmer und sah mich an. Ich ging vorbei, ohne ihrem Blick zu begegnen.
»Das war vielleicht nicht besonders intelligent«, sagte ich, »aber es hat gut getan.«
»Kann ich verstehen«, sagte sie.
Ich ging ins Schlafzimmer, nahm Vanja die Klötze ab und legte sie in den Kasten, den ich auf die Kommode setzte, damit sie ihn nicht erreichen konnte. Um sie auf andere Gedanken zu bringen und von der Verzweiflung abzulenken, die sie nun erfüllte, hob ich sie hoch und stellte sie auf die Fensterbank. Wir schauten uns eine Weile die Autos an. Aber ich war zu sehr außer mir, um lange stillstehen zu können, so dass ich sie wieder auf den Boden setzte und ins Bad ging, wo ich mir mit heißem Wasser die Hände wusch, die im Winter immer so kalt waren, sie abtrocknete, stehen blieb und mein Spiegelbild betrachtete, das wirklich nicht das Geringste von den Gedanken oder Gefühlen verriet, die sich in mir regten. Die vielleicht deutlichste Erblast aus meiner Kindheit bestand darin, dass mir laute Stimmen und Aggression Angst machten. Streit und Szenen waren für mich das Schlimmste, was es gab, und lange Zeit war es mir gelungen, ihnen als Erwachsener aus dem Weg zu gehen. In keiner meiner Beziehungen war es zu lautstarken Auseinandersetzungen gekommen, alles in der Art verlief nach meiner Methode, die Ironie, Sarkasmus, Unfreundlichkeit, Schmollen, Schweigen hieß. Erst als Linda in mein Leben trat, veränderte sich das. Und wie es sich veränderte. Und ich, ich hatte Angst. Es war keine rationale Angst, denn körperlich war ich ihr natürlich haushoch überlegen, und was die Balance in unserer Beziehung betraf, so brauchte sie mich mehr als ich sie, will sagen, ich konnte
gut alleine sein, allein zu sein, war für mich nicht nur immer eine Möglichkeit, sondern auch eine Versuchung, während sie es mehr als alles andere fürchtete, alleine zurückzubleiben, aber obwohl sich das Kräfteverhältnis so gestaltete, bekam ich Angst, wenn sie auf mich losging. Eine Angst wie damals, als ich klein gewesen war. Oh, stolz war ich darauf nicht, aber was nützte das schon? Es war nichts, was ich gedanklich oder willentlich kontrollieren konnte, in solchen Situationen wurde etwas völlig anderes in mir freigesetzt, etwas tiefer Verankertes, ganz unten in dem, was möglicherweise das Fundament meines Charakters war. Linda blieb dies jedoch verborgen. Dass ich mich fürchtete, sah man mir nicht an. Wenn ich mich wehrte, brach meine Stimme manchmal, weil ich kurz davor war, in Tränen auszubrechen, aber soweit ich wusste, konnte diese Reaktion in ihren Augen auch durch meine Wut ausgelöst worden sein. Nein, Moment, irgendwie musste sie es schon ahnen. Aber vielleicht nicht unbedingt, wie furchtbar es wirklich für mich war.
Ich hatte sicher auch etwas daraus gelernt. Jemanden anzubrüllen, wie ich es gerade bei der Russin getan hatte, wäre für mich ein Jahr zuvor noch völlig undenkbar gewesen. Aber in ihrem Fall würde es natürlich nie zu einer Versöhnung kommen. Nach diesem Zwischenfall war nur eine weitere Eskalation möglich.
Na und?
Ich griff nach den vier blauen IKEA-Tüten mit dreckiger Wäsche, die ich völlig vergessen hatte, und trug sie in den Flur, zog mir Schuhe an und sagte in den Raum hinein, dass ich in den Keller gehen würde, um zu waschen. Linda trat in die Tür.
»Musst du das unbedingt jetzt machen?«, sagte sie. »Sie kommen doch bald. Und wir haben nicht einmal
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