Lieben: Roman (German Edition)
sie, erwiderte sie, sie habe sich schon immer gelangweilt, auch als wir klein gewesen seien.
Wenn Ingrid wollte, zog sie die Aufmerksamkeit aller Kinder auf sich, etwas in ihrem Wesen ließ einen unmittelbaren Kontakt entstehen. Sie hatte viel Ausstrahlung, und wenn sie
einen Raum betrat, war er verändert. Sie eroberte ihn. Meine Mutter konnte in einem Raum sitzen, ohne dass man ihre Anwesenheit auch nur ahnte. Ingrid war einmal Schauspielerin am wichtigsten Theater des Landes gewesen, hatte das große Leben gelebt, das aktive Leben. Meine Mutter betrachtete, dachte nach, las, schrieb, reflektierte, lebte das kontemplative Leben. Ingrid liebte es zu kochen, meine Mutter tat es, weil es sein musste.
Vor dem Schlafzimmerfenster ging Vidar vorbei, ein wenig gebeugt in seinem blauen Overall und mit vorsichtigen Schritten, um auf dem Pfad nicht zu fallen. Einen Augenblick später tauchte er unterwegs zur Garage vor dem Wohnzimmerfenster auf. In der Küche stand Vanja mittlerweile und stützte sich am Schrank ab, während Ingrid einen Topf mit kochenden Kartoffeln von der Herdplatte zog. Ich stand auf und ging in den Flur, zog Jacke, Mütze und Stiefel an, öffnete die Tür und setzte mich auf den Stuhl an der Hauswand, um eine Zigarette zu rauchen. Vidar kam mit einem Eimer in der Hand aus der Garage.
»Könntest du mir gleich bitte kurz helfen?«, sagte er. »In zehn Minuten oder so?«
»Klar«, sagte ich.
Er nickte, damit war es abgemacht, und ging um die Hausecke. Ich sah in die Ferne. Das Licht unter dem Himmel war matter geworden. Die nahende Dunkelheit verteilte sich nicht gleichmäßig über der Landschaft, was bereits dunkel war, saugte sie gieriger an, zum Beispiel die Bäume am Waldsaum: ganz schwarz waren Stämme und Äste inzwischen. Das schwache Februarlicht wich kampflos, widerstandslos aus dem Tag, nicht einmal ein letztes Aufflammen konnte es aufbieten, nur ein langsames, unmerkliches Hinsterben, bis alles Dunkelheit und Nacht war.
Ich wurde von einem plötzlichen Glücksgefühl übermannt.
Da waren das Licht über dem Erdreich, die Kälte in der Luft, die Stille zwischen den Bäumen. Da war die wartende Dunkelheit. Da war ein Nachmittag im Februar, der seine Stimmung in mein Inneres sandte und Erinnerungen an all die anderen Februarnachmittage zum Leben erweckte, die ich erlebt hatte, oder vielmehr ihren Klang, denn die Erinnerungen selbst waren seit langem tot. So ungeheuer reich und voll war sie, weil sich das ganze Leben in ihr bündelte. Es war, als zöge sie einen Schnitt durch die Jahre; dieses unerschütterliche Licht lag wie Ringe in die Erinnerung gesenkt.
Das Glücksgefühl ging in eine ebenso starke Trauer über. Ich drückte die Zigarette im Schnee aus, warf sie zu der Tonne, die unter der Dachrinne stand, sagte mir innerlich, dass ich nicht vergessen durfte, die Kippen zu entfernen, bevor wir fuhren, und ging auf die Rückseite des Hauses, wo Vidar in dem Verschlag über dem Erdkeller stand und eine Verkleidung an einen Gefrierschrank schraubte.
»Wir müssen ihn zum Schuppen tragen«, erklärte er. »Es ist ein bisschen glatt, aber wenn wir vorsichtig sind, wird es schon gehen.«
Ich nickte. Direkt hinter uns krächzte eine Krähe. Ich drehte mich zu dem Laut um, starrte auf die Baumreihe hinter der freien Fläche, konnte aber nichts entdecken.
An dem Tag waren all ihre Bewegungen im Freien im Schnee ablesbar. Die Spuren folgten den Pfaden, die hier von der Haustür aus zu den vielen kleinen Bauten führten. Der Rest war weiß und unberührt.
Vidar wandte sich der dritten Schraube zu. Seine Finger waren geschmeidig und gut koordiniert. Er reparierte alle kleineren Dinge, die zu Bruch gingen, je kleiner, desto besser, schien es. Ich selbst hatte für nichts Geduld, was ich nicht mit der ganzen Hand anfassen konnte. IKEA-Möbel zusammenzubauen machte mich rasend.
Beim Schrauben schoben sich seine Lippen ein wenig hoch. Die dadurch entblößten schiefen Zähne sowie die schmalen Augen und die dreieckige Gesichtsform, die der Kinnbart zusätzlich betonte, ließen ihn wie ein Fuchs aussehen.
Der Eimer, den er geholt hatte und der mit Sand gefüllt war, stand blassrot neben ihm auf dem grauen Betonboden.
»Wolltest du streuen?«, sagte ich.
»Ja«, sagte er. »Magst du das vielleicht übernehmen?«
»Kann ich machen«, sagte ich.
Ich hob den Eimer an, nahm eine Handvoll Sand und streute ihn beim Gehen vor mir in die Spuren. Ingrid kam aus dem Haus, ging mit ihren kurzen,
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