Lieben: Roman (German Edition)
Schaum die Lippen berührte und die kalte, leicht bittere Flüssigkeit die Mundhöhle füllte, die auf diese Geschmacksfülle so unvorbereitet war, dass mich ein Schauer durchlief, und durch die Kehle hinunterglitt.
Ah.
Wenn man sich die Zukunft ausmalte und eine Welt heraufbeschwor, in der sich das urbane Leben überall ausgebreitet und der Mensch seine ersehnte Symbiose mit der Maschine vollzogen hatte, bedachte man nie die einfachsten Dinge, zum Beispiel das Bier, so golden und aromatisch und robust, gebraut aus dem Korn auf der Erde und dem Hopfen auf der Wiese, oder das Brot oder Rote Bete mit ihrem süßlichen, aber dunklen, erdartigen Geschmack, all das, was wir immer gegessen und getrunken hatten, an Tischen aus Holz, hinter Fenstern, durch die Sonnenstrahlen fielen. Was machte man in diesen Palästen des 17. Jahrhunderts mit ihren livreegekleideten Dienern, hochhackigen Schuhen und gepuderten Perücken, die auf Schädeln voller Gedanken des 17. Jahrhunderts ruhten, denn anderes als Bier und Wein zu trinken, Brot und Fleisch zu essen, zu pinkeln und zu kacken? Gleiches galt für das 18., 19. und 20. Jahrhundert. Die Vorstellung davon, was der Mensch war, veränderte sich kontinuierlich, die Vorstellung von der Welt und der Natur auch, alle möglichen seltsamen Ideen und Glaubensrichtungen tauchten auf und verschwanden wieder, nützliche und nutzlose Dinge wurden erfunden, die Wissenschaft drang beständig tiefer in ihre Mysterien vor, es gab stetig mehr Maschinen, das Tempo erhöhte
sich, und immer größere Gebiete alter Lebensweisen wurden aufgegeben, aber kein Mensch träumte davon, das Bier aufzugeben oder zu verändern. Malz, Hopfen, Wasser. Erde, Wiese, Bach. Und so verhielt es sich im Grunde mit allem. Wir waren ins Archaische getaucht, nichts Wesentliches an uns, unseren Körpern oder Bedürfnissen, hatte sich verändert, seit der erste Mensch vor vierzigtausend Jahren, oder wie lange der Homo sapiens existierte, irgendwo in Afrika das Licht der Welt erblickt hatte. Aber wir bildeten uns ein, dass es anders war, und so stark war unsere Vorstellungskraft, dass wir es nicht nur glaubten, sondern uns auch danach richteten, wenn wir uns in unseren Cafés und dunklen Clubs trafen und betranken und unsere Tänze tanzten, die wahrscheinlich noch unbeholfener waren als jene, die vor, sagen wir, fünfundzwanzigtausend Jahren im Lichte eines Lagerfeuers irgendwo an der Mittelmeerküste aufgeführt worden waren.
Wie konnte die Vorstellung, wir wären modern, überhaupt entstehen, wenn um uns herum Menschen von Krankheiten befallen umkippten, gegen die es kein Heilmittel gab? Wer kann mit einem Krebsgeschwür im Gehirn modern sein? Wie konnten wir glauben, dass wir modern waren, wenn wir doch wussten, dass jeder von uns schon bald in der Erde liegen und verwesen würde?
Ich hob erneut das Glas zum Mund und trank einige lange, tiefe Schlucke.
Wie sehr ich es liebte zu trinken. Es war kaum mehr als ein halbes Glas Bier erforderlich, um mein Gehirn auf den Gedanken zu bringen, es diesmal komplett auszuknocken. Dort einfach nur zu sitzen und zu trinken und zu trinken. Aber würde ich das tun?
Nein, das würde ich nicht.
In den wenigen Minuten, die ich dort gesessen hatte, war ein steter Strom von Menschen zur Tür hereingekommen. Die
meisten von ihnen machten es wie ich, blieben nach einem Meter im Raum stehen und musterten die Gäste, während sie an ihren Mänteln nestelten.
Ganz hinten in der letzten Gruppe fiel mir ein Gesicht auf. Das war ja Thomas!
Ich winkte ihm zu, und er kam zu mir.
»Hallo, Thomas«, sagte ich.
»Hi, Karl Ove«, sagte er und gab mir die Hand. »Lange nicht gesehen.«
»Ja, das stimmt. Alles okay bei dir?«
»Ja, so ziemlich. Und bei dir?
»Ja klar, mir geht’s gut.«
»Ich bin mit ein paar anderen hier, sie sitzen da drüben in der Ecke. Willst du dich zu uns setzen?«
»Danke. Aber ich warte auf Geir.«
»Aha! Ach stimmt ja, ich glaube, das hat er auch erwähnt. Ich habe gestern mit ihm gesprochen. Dann komme ich später noch einmal zu euch, wenn das okay ist?«
»Na klar«, sagte ich. »Bis später.«
Thomas war mir von Geirs Freunden mit Abstand am sympathischsten. Er war Anfang fünfzig, hatte eine auffallende Ähnlichkeit mit Lenin, vom Bart über dem kahlen Schädel bis zu den mongolischen Augen stimmte alles überein, und er war Fotograf. Er hatte drei Bücher veröffentlicht, das erste mit Aufnahmen von schwedischen Küstenjägern, das zweite mit Bildern von
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