Lieben: Roman (German Edition)
hatte, und dem kleinen Eishockeyhelm auf dem Kopf auf der Eisfläche stand, schrie sie lauthals ihre Wut heraus, als sie erkennen musste, dass sie nicht auf ihnen balancieren konnte und es wahrscheinlich erst sehr viel später lernen würde. Umso größer war ihre Freude, als sie begriff, dass sie auf Skiern tatsächlich laufen konnte. Wir waren draußen auf dem kleinen Schneefleck im Garten ihrer Großmutter und probierten die Ausrüstung aus, die diese besorgt hatte. Doch auch hier war die Vorstellung, Ski zu laufen, und die Freude darüber, es auch zu können, größer als die Freude am Skilaufen selbst, denn darauf konnte sie hervorragend verzichten. Sie liebte es, mit uns zu reisen, liebte es, an neue Orte zu kommen, und sprach noch Monate später über alles, was sich ereignet hatte. Aber am meisten liebte sie es natürlich, mit anderen Kindern zu spielen. Wenn ein Kind aus der Tagesstätte sie nach Hause begleitete, war das eine große Sache. Als Benjamin zum ersten Mal zu uns kommen sollte, ging sie am Vorabend durch ihr Zimmer, betrachtete ihre Spielsachen und war verzweifelt, weil sie für ihn nicht gut genug waren. Da war sie gerade drei geworden. Als er da war, rissen sie sich jedoch gegenseitig mit, und alle vorausgegangenen Bewertungen verschwanden in einem Wirbel aus Erregung und Freude. Seinen Eltern sagte Benjamin, Vanja sei die netteste im Kindergarten, und als ich ihr davon erzählte, sie saß im Bett und spielte mit ihren Barbapapa-Figuren, reagierte sie mit einem Gefühlsausdruck, den sie mir nie zuvor gezeigt hatte.
»Weißt du, was Benjamin gesagt hat?«, fragte ich im Türrahmen stehend.
»Nein«, sagte sie und schaute, plötzlich gespannt, zu mir hoch.
»Er hat gesagt, dass du die netteste von allen im Kindergarten bist.«
Das Licht, das sie erfüllte, hatte ich noch nie gesehen. Alles an ihr leuchtete vor Freude. Ich wusste, dass weder Linda noch ich jemals etwas sagen könnten, was so eine Reaktion hervorrufen würde, und ich begriff plötzlich jäh und mit unmittelbarer Klarheit, dass sie nicht uns gehörte, dass ihr Leben ganz und gar ihr eigenes war.
»Was hat er gesagt?«, fragte sie, denn sie wollte es noch einmal hören.
»Er hat gesagt, dass du die netteste von allen im Kindergarten bist.«
Sie lächelte verlegen, aber voller Freude, und das freute auch mich, aber gleichzeitig fiel auf meine Freude auch ein Schatten, denn war es nicht beunruhigend früh, dass die Gedanken und Ansichten anderer ihr so viel bedeuteten? Wäre es nicht das Beste, wenn das alles aus ihr selbst käme, wenn es in ihr selbst verankert wäre? Ein weiteres Mal überraschte sie mich so im Kindergarten, als ich den Flur betrat, um sie abzuholen, und sie zu mir lief und sich erkundigte, ob Stella sie hinterher zum Reitstall begleiten könne. Ich antwortete ihr, das gehe nicht, so etwas müsse vorher geplant werden, wir müssten zuerst mit ihren Eltern sprechen, und Vanja war offensichtlich enttäuscht, als sie mich das sagen hörte, aber als sie Stella meine Entscheidung mitteilte, hörte ich, während ich im Flur ihre Regensachen heraussuchte, dass sie nicht meine Argumente wiedergab.
»Du würdest dich im Stall bestimmt langweilen«, sagte sie. »Es ist nicht toll, nur zuzugucken.«
Diese Art zu denken, die Reaktionen anderer eher zu berücksichtigen als die eigenen, kannte ich von mir selbst, und als wir im Regen zum Volksgarten gingen, dachte ich darüber nach, wie sie sich das angeeignet haben mochte. Lag es einfach da, um sie herum, unsichtbar, aber so gegenwärtig wie die Luft, die sie einatmete? Oder war es genetisch bedingt?
Keinen dieser Gedanken, die ich mir über meine Kinder machte, äußerte ich jemals anderen als Linda gegenüber, denn nur dort, in mir und zwischen uns, hatte diese Komplexität ihren Platz. Im wirklichen Leben, also der Welt, in der Vanja lebte, war alles einfach und wurde einfach ausgedrückt, die Komplexität entstand allein in der Summe aller Teile, die sie natürlich nicht kannte. Dass wir uns oft über die Kinder unterhielten, half uns in unserem Alltag jedoch nicht weiter, in dem alles unübersichtlich war und konstant auf der Schwelle zum Chaos stand. In dem ersten sogenannten Entwicklungsgespräch, das wir mit dem Personal des Kindergartens führten, ging es lange darum, dass sie keinen Kontakt zu den Erziehern aufnahm, nicht bei ihnen auf dem Schoß sitzen oder von ihnen gestreichelt werden wollte, und dass sie so verlegen war. Wir sollten darauf hinarbeiten, sie
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