Lieben: Roman (German Edition)
nicht, dass es so ist. Der wichtigste Unterschied besteht darin, dass ich froh bin und du nicht.«
»So unfroh bin ich ja doch wohl nicht…«
»Genau! Unfroh, ein solches Wort kannst auch nur du benutzen! Es sagt alles über dich.«
»Unfroh ist ein gutes Wort. Ehrlich gesagt habe ich es in der Heimskringla gesehen. Und die Storm-Ausgabe ist immerhin hundert Jahre alt. Aber wird es nicht langsam Zeit, das Thema zu wechseln?«
»Hättest du das vor zwei Jahren gesagt, hätte ich es verstanden.«
»Okay. Ich kann auch weitermachen. Nach dem, was mit Tonje passiert war, fuhr ich auf eine Insel hinaus und blieb dort zwei Monate. Ich war früher schon einmal dort gewesen, ein Anruf genügte, und es war alles geklärt. Ein Haus, eine kleine Insel weit draußen im Meer, drei andere Menschen. Es war Ende des Winters, so dass alles gefroren und erstarrt war. Dort lief ich dann herum und dachte nach. Und ich überlegte, dass ich alles dafür tun musste, ein guter Mensch zu werden. Dass ich bei allem, was ich tun würde, dieses Ziel vor Augen haben sollte. Aber nicht auf diese unterwürfige, ausweichende Art, die mich bis dahin gekennzeichnet hatte, du weißt schon, als ich bei jeder Kleinigkeit von Scham übermannt wurde. Die Würdelosigkeit. Nein, zu dem neuen Bild, das ich von mir selbst entwarf, gehörten auch Mut und Rückgrat. Den Menschen direkt in die Augen zu sehen und ihnen zu sagen, wofür ich stand. Weißt du, ich war immer krummer geworden, wollte immer weniger Platz einnehmen, und da draußen begann ich, mich buchstäblich aufzurichten. Ganz konkret. Gleichzeitig las ich Hauges Tagebücher. Alle dreitausend Seiten. Das hat mich unheimlich getröstet.«
»Ihm ging es noch schlechter?«
»Ganz bestimmt. Aber das war nicht der Punkt. Er kämpfte unablässig mit dem Gleichen, dem Idealbild davon, wie er sein wollte, und dagegen an, wie er war. Er hatte einen unglaublich starken Willen, diesen Kampf auszufechten. Und das bei einem Mann, der im Grunde nichts tat, nichts erlebte, nur las, schrieb und auf einem kleinen dämlichen Hof an einem kleinen dämlichen Fjord in einem kleinen dämlichen Land am Rande der Welt in seinem Inneren diesen Kampf ausfocht.«
»Tja, kein Wunder, dass er manchmal total durch den Wind war.«
»Es kommt mir so vor, als wäre auch das eine Erleichterung gewesen. Dass er nachgab und ein Teil der Geschwindigkeit,
mit der er aus der Bahn geworfen wurde, auch von Freude herrührte. Er gab die eiserne Kontrolle über sich auf und gab sich hin, könnte man fast meinen.«
»Es fragt sich, ob das nicht Gott war«, meinte Geir. »Das Gefühl, gesehen zu werden, von dem auf die Knie gezwungen zu werden, was einen sieht. Wir haben nur einen anderen Namen dafür. Das Über-Ich oder die Scham oder was auch immer. Vielleicht war Gott deshalb für manche eine stärkere Realität als für andere.«
»Das hieße, der Drang, sich niederen Gefühlen hinzugeben und sich nur in Genuss und Lastern zu suhlen, wäre der Teufel?«
»Genau.«
»Das hat mich nie gelockt. Es sei denn, ich trinke. Dann wird alles über Bord geworfen. Was ich will, ist reisen, sehen, lesen, schreiben. Frei sein. Vollkommen frei. Und dazu hatte ich damals, draußen auf der Insel, die Chance, denn mit Tonje war es aus. Ich hätte überallhin reisen können. Tokio, Buenos Aires, München. Stattdessen ging ich dorthin, wo es keine Menschenseele gab. Ich verstand mich ja selbst nicht, hatte keine Ahnung, wer ich war: Woran ich mich also hielt, diese ganzen Gedanken darüber, ein guter Mensch zu sein, war schlicht und ergreifend das Einzige, was ich noch hatte. Ich sah nicht fern, ich las keine Zeitungen und aß nichts außer Knäckebrot und Suppe. Wenn ich es mir da draußen richtig gut gehen ließ, hieß das, es gab Fischfrikadellen und Blumenkohl. Und Orangen. Ich machte Liegestütze und Sit-ups. Kannst du dir das vorstellen? Wie verzweifelt muss ein Mann sein, wenn er versucht, seine Probleme mit Liegestützen zu lösen?«
»Bei all dem geht es doch letztlich um Reinheit. Von vorne bis hinten. Askese. Sich nicht von Fernsehen oder Zeitungen verderben zu lassen, so wenig zu essen wie möglich. Hast du Kaffee getrunken?«
»Kaffee habe ich getrunken, aber das mit der Reinheit stimmt trotzdem. Das Ganze hat schon fast etwas Faschistisches.«
»Hauge schrieb immerhin, Hitler sei ein großer Mann.«
»Damals war er noch nicht so alt. Aber das Schlimmste ist, dass ich dieses Bedürfnis verstehen kann, alles Kleinliche und
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