Lieben: Roman (German Edition)
Der Grund dafür, und ich denke, das hast du nicht verstanden, ist nichts Heiligenhaftes oder hehre Moral, sondern Feigheit. Feigheit und sonst nichts. Glaubst du wirklich, ich würde nicht gern alle Bande zu allen kappen und tun, was ich will, und nicht, was sie wollen?«
»Doch.«
»Denkst du, ich werde es tun?«
»Nein.«
»Du bist frei. Ich bin unfrei. So einfach ist das.«
»Nein, weit gefehlt«, entgegnete Geir. »Es mag ja sein, dass du in Beziehungen festsitzt, was übrigens seltsam klingt, denn du triffst doch gar keine Menschen, ha ha ha, aber ich verstehe, was du meinst, und du hast Recht, du versuchst auf alle gleichzeitig Rücksicht zu nehmen, ich habe es ja mit eigenen Augen gesehen, wie du da oben herumgerannt bist, wenn wir bei euch zum Essen eingeladen waren. Aber es gibt mehrere Arten festzusitzen, es gibt mehrere Arten unfrei zu sein. Du darfst nicht vergessen, dass du alles bekommen hast, was du haben wolltest. Du hast dich an allen gerächt, an denen du dich rächen wolltest. Du hast eine Position. Menschen warten darauf, was du tust, und wedeln mit Palmblättern, wenn
du dich zeigst. Du kannst einen Artikel über etwas schreiben, was dich gerade beschäftigt, und ein paar Tage später wird er in der Zeitung deiner Wahl erscheinen. Leute rufen dich an und wollen dich hierhin und dorthin einladen. Zeitungen bitten dich, alles Mögliche zu kommentieren. Deine Bücher werden in Deutschland und England erscheinen. Begreifst du, welche Freiheit darin liegt? Begreifst du, welche Möglichkeiten sich in deinem Leben eröffnet haben? Du sprichst von der Sehnsucht, loszulassen und abzustürzen. Würde ich loslassen, bliebe ich einfach an derselben Stelle stehen. Ich stehe ganz unten, auf dem Grund. Keiner interessiert sich für das, was ich schreibe. Keiner interessiert sich für meine Gedanken. Keiner lädt mich irgendwohin ein. Ich bin gezwungen, mich hineinzuzwängen, verstehst du? Wenn ich in einen Raum voller Menschen komme, muss ich mich zu etwas machen. Mich gibt es vorher nicht, wie es dich gibt, ich habe keinen Namen, ich muss alles jedes Mal von Grund auf neu erschaffen. Ich sitze auf dem Grund eines Erdlochs und brülle in ein Megaphon. Es spielt keine Rolle, was ich sage, es hört sowieso keiner hin. Und du weißt, in dem, was ich im Außen sage, liegt eine Kritik dessen, was im Innen ist. Und damit ist man per Definition bereits rechthaberisch. Ein verbitterter Querulant. All das, während die Jahre vergehen. Ich bin fast vierzig und habe nichts von dem bekommen, was ich haben wollte. Du sagst, es ist brillant und einzigartig, und vielleicht ist es das, aber was nützt mir das? Du hast alles bekommen, was du willst, und daraufhin kannst du darauf verzichten, es liegen lassen, es nicht benutzen. Ich kann das nicht. Ich muss hinein. Mittlerweile habe ich zwanzig Jahre darauf verwendet. Für das Buch, an dem ich im Moment sitze, werde ich noch mindestens drei Jahre brauchen. Ich merke schon jetzt, dass die Umwelt den Glauben daran und damit auch das Interesse daran verliert. Ich werde mehr und mehr zu einem Irren, der sich weigert,
sein Irrsinnsprojekt aufzugeben. Alles, was ich sage, wird nun daran gemessen. Als ich etwas kurz nach meiner Doktorarbeit sagte, wurde es daran gemessen, damals war ich im akademischen und intellektuellen Sinne noch lebendig, jetzt bin ich tot. Und je länger das so weitergeht, desto besser muss das nächste Buch werden. Es reicht nicht, dass es ziemlich gut, ganz okay, sehr schön ist, denn mein Zeitverbrauch und mein Alter sind im Verhältnis dazu so hoch, dass es einzigartig sein muss. Aus dieser Perspektive betrachtet bin ich nicht frei. Und um stattdessen an das anzuknüpfen, worüber wir vorhin gesprochen haben, das viktorianische Ideal, das kein Ideal war, sondern eine Praxis, ich meine das Doppelleben. Das ist ja durchaus auch ein Grund zur Trauer, denn ein solches Leben kann niemals ganz werden. Und das ist es doch, wovon alle träumen, von der einen Liebe oder der Liebe zu dem einen Menschen, wenn alles Zynische und Kalkulierende verschwindet, wenn alles ganz ist. Na ja, du weißt schon. Die Romantik. Das Doppelleben ist eine adäquate Lösung für ein Problem, aber es ist nicht unproblematisch, falls du gedacht haben solltest, das würde ich glauben. Es ist praktisch, provisorisch, pragmatisch, also lebendig. Aber nicht ganz und nicht ideal. Der wichtigste Unterschied zwischen uns beiden ist nicht, dass ich frei bin und du unfrei, denn ich glaube
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