Lieben: Roman (German Edition)
das?«
»Nur so. Als wir kamen, hast du ferngesehen. Ich habe mich nur gefragt, was du dir angesehen hast.«
Jetzt seufzte sie.
»Ich will nicht ins Bett!«, sagte Vanja und hob den Hähnchenspieß, als wollte sie damit werfen. Ich packte ihren Arm.
»Leg ihn hin«, sagte ich.
»Du kannst zehn Minuten gucken und eine Schale mit Süßigkeiten mitnehmen«, sagte Linda.
»Ich habe ihr doch gerade erst gesagt, dass es nicht geht«, sagte ich.
»Nur zehn Minuten«, erwiderte Linda und stand auf. »Ich bringe sie dann auch ins Bett.«
»Aha?«, sagte ich. »Dann soll ich hier wohl spülen, was?«
»Wovon redest du eigentlich? Mach, was du willst. Heidi ist die ganze Zeit bei mir gewesen, falls es darum gehen sollte. Sie ist krank und quengelig und …«
»Ich gehe eine rauchen.«
»… ganz unmöglich gewesen.«
Ich zog Jacke und Schuhe an und ging auf den Balkon, der nach Osten hinaus lag und auf dem ich immer rauchte, zum einen, weil er überdacht war, und zum anderen, weil man von dort aus nur selten Menschen sah. Der Balkon auf der anderen Seite, der an der ganzen Wohnung entlanglief und über zwanzig Meter lang war, hatte keine Überdachung und einen Blick auf den Platz, wo immer Menschen zu dem Hotel und dem Einkaufszentrum auf der anderen Straßenseite unterwegs waren, und auf die fernen Fassaden am Magistratpark. Aber ich wollte meine Ruhe haben, ich wollte keine Menschen sehen, also schloss ich die Tür zu dem kleineren Balkon hinter mir und setzte mich auf den Stuhl in der Ecke, zündete mir eine Zigarette an, legte die Beine aufs Geländer und starrte auf die vielen Hinterhöfe und Dachgiebel, die harten Formen, über denen sich hoch und mächtig der Himmel wölbte. Die Aussicht veränderte sich ständig. Mal wurde sie von riesigen Wolkenbänken geprägt, die Gebirgsmassiven, voller Abgründe und Hänge, Täler und Höhlen ähnelten, mystisch mitten
im blauen Himmel schwebend, im nächsten Moment zog von weit draußen kommend eine Wolkenbank heran, sichtbar als eine gewaltige, grauschwarze Düne am Horizont, und wenn dies im Sommer geschah, zerrissen Stunden später die spektakulärsten Blitze im Sekundentakt die Dunkelheit und es rollten Donner über die Dächer. Aber auch die unspektakulärsten Himmelsbilder gefielen mir, selbst die vollkommen gleichmäßigen, grauen und regnerischen, vor deren schwerem Hintergrund die Farben in den Hinterhöfen unter mir klar und fast glänzend hervortraten. Die grünspanigen Dachplatten! Die orangeroten Backsteine! Und das gelbe Metall der Kräne, wie klar es vor all dem gräulich Weißen leuchtete. Oder einer dieser gewöhnlichen Sommertage, an denen der Himmel hell und blau war und die Sonne brannte und die wenigen Wolken, die vorüberzogen, leicht und fast konturlos erschienen, dann glitzerte und funkelte die Häusermasse, die sich bis in die Ferne erstreckte. Und wenn es Abend wurde, kündigte dieser sich zunächst mit einem rötlichen Aufflammen am Horizont an, als würde das Land unter ihm brennen, gefolgt von einer hellen und sanften Dunkelheit, unter deren freundlicher Hand die Stadt wie glücklich erschöpft nach einem langen Tag in der Sonne zur Ruhe kam. Am Himmel funkelten die Sterne, schwebten die Satelliten, flogen die Flugzeuge blinkend von und nach Kastrup und Sturup.
Wollte ich Menschen sehen, musste ich mich vorlehnen und zum Hof auf der anderen Seite hinunterstarren, wo sich ab und zu gesichtslose Wesen in diesem ewigen Zyklus zwischen Zimmern und Türen an den Fenstern zeigten: Irgendwo wird eine Kühlschranktür geöffnet, ein Mann, nur mit Boxershorts bekleidet, holt etwas heraus, schließt sie wieder und setzt sich an einen Küchentisch, andernorts wird eine Wohnungstür zugeknallt, und eine Frau in einem Mantel, mit einer Tasche über der Schulter, eilt die Treppen hinab, immer im Kreis, an
einem dritten Ort steht, der Silhouette und Bewegungsträgheit nach zu urteilen, ein älterer Mann, er bügelt; wenn er fertig ist, löscht er das Licht, und das Zimmer stirbt. Wohin soll man jetzt schauen? Nach oben, wo ein Mann bisweilen auf und ab springt und mit den Armen vor jemandem herumfuchtelt, den man nicht sehen kann, aber dürfte es sich nicht allem Anschein nach um ein kleines Baby handeln? Oder zu der Frau in den Fünfzigern, die so oft am Fenster steht und hinausschaut?
Nein, diese Lebensläufe blieben von meinem Blick verschont. In die Ferne und in die Höhe richtete ich ihn, und das nicht, um zu mustern, was es dort gab, oder mich
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