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Lieben: Roman (German Edition)

Lieben: Roman (German Edition)

Titel: Lieben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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von der Schönheit beeindrucken zu lassen, sondern einfach, um ihm Ruhe zu gönnen. Ganz allein zu sein.
    Ich griff nach der halbvollen Zweiliterflasche Cola Light, die neben meinem Stuhl auf dem Boden stand, und füllte eines der Gläser auf dem Tisch. Sie war nicht zugedreht gewesen und die Cola deshalb schal, so dass man das Aroma des leicht bitteren Süßstoffs, der normalerweise im Prickeln der Kohlensäure verschwand, deutlich herausschmeckte. Aber das machte nichts, ich hatte mich noch nie sonderlich dafür interessiert, wie Dinge schmeckten.
    Ich setzte das Glas auf den Tisch zurück und drückte die Zigarette aus. Von meinen zahlreichen Gefühlen für die Menschen, mit denen ich soeben mehrere Stunden verbracht hatte, war nichts mehr geblieben. Sie hätten allesamt verbrennen können, ohne dass ich das Geringste für sie empfunden hätte. Das war eine Regel in meinem Leben. Wenn ich mit anderen zusammen war, fühlte ich mich ihnen verbunden, die Nähe zu ihnen war unerhört, ich lebte mich so sehr in sie hinein. Ja, so sehr, dass mir ihr Wohlbefinden stets wichtiger war als meins. Ich ordnete mich ihnen fast bis an den Rand der Selbstaufgabe unter; was sie meinen oder denken mochten, hatte ausgehend
von einer für mich nicht kontrollierbaren inneren Mechanik Vorrang vor meinen eigenen Gedanken und Gefühlen. Sobald ich allein war, verloren andere Menschen jedoch jegliche Bedeutung für mich. Nicht, dass sie mir missfielen oder dass ich sie verabscheut hätte, im Gegenteil, die meisten von ihnen mochte ich, und wenn ich jemanden nicht recht mochte, fand ich doch immer irgendetwas Wertvolles an ihm, irgendeine Eigenschaft, mit der ich sympathisieren konnte oder die mir zumindest interessant erschien, mit der sich meine Gedanken für den Moment beschäftigen konnten. Aber sie zu mögen, hieß nicht, dass sie mich interessierten. Die gesellige Situation stellte die Verbindung her, nicht die Menschen. Zwischen diesen beiden Blickwinkeln gab es nichts. Es existierte nur dieses kleine, sich selbst Auslöschende, und das große, Distanz Schaffende. Und dazwischen spielte sich mein Alltag ab. Vielleicht fiel es mir deshalb so schwer, in ihm zu leben. Das alltägliche Leben mit seinen Pflichten und wiederkehrenden Abläufen war etwas, das ich ertrug, nichts, worüber ich mich freute, nichts, was mir einen Sinn gab und mich glücklich machte. Es ging nicht darum, dass ich keine Lust hatte, den Fußboden zu putzen oder Windeln zu wechseln, sondern um etwas Fundamentaleres, dass ich in dem mir nahen Leben keinen Wert erblickte, mich stattdessen unablässig fortsehnte und dies schon immer getan hatte. Das Leben, das ich führte, war folglich nicht mein eigenes. Ich versuchte, es zu meinem zu machen, das war der Kampf, den ich ausfocht, denn das wollte ich doch, aber es gelang mir einfach nicht, alles, was ich tat, wurde von der Sehnsucht nach etwas anderem vollständig ausgehöhlt.
    Worin bestand das Problem?
    Ertrug ich den schrillen, kranken Ton nicht, der überall in der Gesellschaft erklang, der von all diesen Pseudo-Menschen und Pseudo-Orten, Pseudo-Ereignissen und Pseudo-Konflikten
ausging, durch die wir lebten, all das, was wir sahen, ohne daran teilzunehmen, sowie die Distanz, die das moderne Leben dadurch zu unserem eigenen, eigentlich unverzichtbaren Hier und Jetzt geschaffen hatte? Wenn es so war, wenn ich mich nach mehr Wirklichkeit, mehr Gegenwart sehnte, müsste ich dann nicht bejahen, was mich umgab? Und mich nicht ausgerechnet davon fortsehnen? Oder reagierte ich vielleicht auf das Vorgefertigte an den Tagen in dieser Welt, auf diesen Schienenstrang der täglichen Routine, dem wir folgten und der alles so vorhersehbar machte, dass wir in Volksbelustigungen investieren mussten, nur um einen Hauch von Intensität zu verspüren? Wenn ich zur Tür hinausging, wusste ich jedes Mal, was passieren, was ich tun würde. So war es im Kleinen, ich gehe zum Einkaufen in den Supermarkt, ich setze mich mit einer Zeitung ins Café, ich hole die Kleinen im Kindergarten ab, und so war es im Großen, vom ersten Einschleusen in die Gesellschaft, dem Kindergarten, bis zum abschließenden Ausschleusen, dem Altenheim. Oder wurde der Abscheu, den ich empfand, von der Gleichförmigkeit geweckt, die sich in der Welt ausbreitete und alles verkleinerte? Reiste man heute durch Norwegen, sah man überall das Gleiche. Die gleichen Straßen, die gleichen Häuser, die gleichen Tankstellen, die gleichen Geschäfte. Noch in den sechziger

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