Lieben: Roman (German Edition)
Jahren ließ sich beispielsweise beobachten, wie sich die Kultur veränderte, wenn man das Gudbrandstal hinauffuhr, die merkwürdigen schwarzen Holzbauten, so rein und düster, die mittlerweile eingekapselt waren wie kleine Museen in einer Kultur, die sich nicht von der unterschied, aus der man kam oder zu der man wollte. Und Europa, das immer mehr zu einem einzigen großen und gleichförmigen Land zusammenwuchs. Das Gleiche, das Gleiche, alles war gleich. Oder ging es womöglich darum, dass das Licht, das die Welt erleuchtete und alles in ihr verständlich werden ließ, ihr gleichzeitig jeglichen Sinn
entzog? Lag es vielleicht an den verschwundenen Wäldern, an den ausgestorbenen Tierarten, an den alten Lebensweisen, die niemals zurückkehren würden?
Ja, all das beschäftigte mich, all das erfüllte mich mit Sorge und Ohnmacht, und wenn es eine Welt gab, der ich mich in meinem Denken zuwandte, dann war es die des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts mit ihren riesigen Wäldern, ihren Segelschiffen und Pferdekutschen, ihren Windmühlen und Schlössern, ihren Klöstern und Kleinstädten, ihren Malern und Denkern, Entdeckungsreisenden und Erfindern, Pfarrern und Alchemisten. Wie wäre es wohl, in einer Welt zu leben, in der alles mit der Kraft der Hände, des Windes und des Wassers verrichtet wurde? Wie wäre es wohl gewesen, in einer Welt zu leben, in der die amerikanischen Indianer ihr Leben noch in Frieden lebten? In der dieses Leben eine echte Möglichkeit bildete? In der Afrika noch nicht erobert war? In der die Dunkelheit mit dem Sonnenuntergang kam und das Licht mit dem Sonnenaufgang? In der die Menschen nicht zahlreich genug waren und zu primitive Werkzeuge besaßen, um die Tierbestände zu beeinflussen, ganz zu schweigen davon, Tierarten auszurotten? In der man nicht ohne Anstrengung vom einen Ort zum anderen gelangen konnte und Komfort nur den Reichsten vorbehalten war, in der das Meer voller Wale, die Wälder voller Bären und Wölfe waren, und es noch Länder gab, die so fremd waren, dass kein Märchen ihnen gerecht werden konnte, zum Beispiel China, wohin eine Reise nicht nur Monate dauerte und nur einer ungeheuer kleinen Minderheit von Seefahrern und Händlern vergönnt blieb, sondern auch mit Lebensgefahr verbunden war. Natürlich war diese Welt grob und arm, dreckig und von Krankheiten geplagt, versoffen und unwissend, voller Schmerz, die Lebenserwartung gering und der Aberglaube groß, aber sie brachte den größten aller Schriftsteller hervor, Shakespeare, den größten
Maler, Rembrandt, den größten Wissenschaftler, Newton, jeder von ihnen bis heute unübertroffen auf seinem Gebiet, und wie ist es möglich, dass ausgerechnet diese Zeit eine solche Fülle herausbildete? War der Tod näher und das Leben deshalb stärker?
Wer weiß.
Zurück können wir so oder so nicht gehen, was wir unternehmen, ist unwiderruflich, und blickt man zurück, sieht man nicht das Leben, sondern den Tod. Und wer glaubt, die Beschaffenheit der Gegenwart wäre dafür verantwortlich, dass er oder sie schlecht angepasst ist, der ist entweder größenwahnsinnig oder lediglich dumm, und in beiden Fällen mangelt es ihm oder ihr jedenfalls an Selbsterkenntnis. Ich verabscheute vieles in unserer Gegenwart, aber daher rührte der Sinnverlust nicht, denn er hatte ja nicht konstant existiert… Als ich in jenem Frühjahr nach Stockholm zog und Linda begegnete, hatte sich die Welt beispielsweise unvermittelt geöffnet und die Intensität in ihr war gleichzeitig in einem rasenden Tempo gewachsen. Ich war bis über beide Ohren verliebt, und alles schien möglich, die Freude war die ganze Zeit maximal und umfasste alles. Hätte damals jemand mit mir über Sinnlosigkeit geredet, hätte ich ihm ins Gesicht gelacht, denn ich war frei, und die Welt lag mir zu Füßen, war prall gefüllt mit Sinn, angefangen bei den Pendlerzügen, die unterhalb meiner Wohnung blinkend und futuristisch über die Gleise bei Slussen glitten, bis zu der Sonne, die die Kirchtürme auf Riddarholmen in jenen ans neunzehnte Jahrhundert erinnernden, unheilschwanger schönen Sonnenuntergängen rot färbte, deren Zeuge ich in diesen Monaten Abend für Abend wurde, vom Geruch frischen Basilikums und dem Geschmack reifer Tomaten bis zum Geräusch klappernder Absätze auf dem Pflaster der abschüssigen Straße zum Hilton hinab in einer späten Nacht, in der wir auf einer Bank saßen, uns an den Händen
hielten und wussten, jetzt und für immer gehörten wir beide
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