Lieben: Roman (German Edition)
Enden ab und ließ ihn auf die weiß glänzende Innenseite des Beutels fallen, hob das Verschlussstück so an, dass er in den hellbraunen, dicht verfilzten Tabakhaufen rutschte, steckte die Zigarette in den Mund und zündete sie mit der Flamme an, die wabernd und gelb aus dem Kopf des Feuerzeugs aufstieg. Inzwischen hatte Geir zwei Tassen auf die Theke gestellt, die er nun mit Kaffee füllte, während ihm die Bedienung gleichzeitig das Wechselgeld hinlegte und sich dem nächsten Kunden zuwandte, einem langhaarigen Mann in den Fünfzigern mit Hut und Boots und einem mantelartigen, ponchoähnlichen Überzieher.
Nein, körperliche Schwere strahlte er nicht aus. Was er dagegen deutlich erkennbar ausgestrahlt hatte, als er mir nicht mehr in die Augen sah, als sein Griff meine Hand losließ und sein Blick umherschweifte, war Rastlosigkeit. Er sah die ganze Zeit aus, als wollte er in Bewegung bleiben.
Er kam mit einer Tasse in jeder Hand zurück. Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen.
»So«, sagte er, stellte die Tassen auf den Tisch, zog den Stuhl heraus. »Du willst also nach Stockholm ziehen?«
»Es sieht ganz so aus«, sagte ich.
»Dann sind meine Gebete also erhört worden«, erklärte er, ohne mich anzusehen. Er blickte auf den Tisch, auf die Hand, mit der er den Henkel der Tasse griff. »Ich weiß nicht, wie oft ich zu Christina gesagt habe, dass ich mir wünschen würde, ein Norweger, der sich für Literatur interessiert, würde hierher ziehen. Und dann kommst du .«
Er hob die Tasse zum Mund und pustete, ehe er trank.
»In dem Sommer, als du nach Uppsala gegangen bist, habe ich dir einen Brief geschrieben«, sagte ich. »Einen langen Brief. Aber ich habe ihn niemals abgeschickt. Er liegt immer noch ungeöffnet bei meiner Mutter. Ich habe keine Ahnung, was in ihm steht.«
»Du machst Witze!«, sagte er und sah mich an.
»Willst du ihn haben?«
»Natürlich nicht! Und komm ja nicht auf die Idee, ihn zu öffnen. Er muss bei deiner Mutter bleiben. Er ist ein Stück versiegelte Zeit!«
»Mag sein«, sagte ich. »Ich erinnere mich ansonsten an kaum etwas aus dieser Zeit. Und die Tagebücher und Manuskripte, die ich damals schrieb, habe ich verbrannt.«
»Verbrannt?«, sagte Geir. »Nicht weggeworfen, sondern verbrannt?«
Ich nickte.
»Dramatisch«, sagte er. »Aber das warst du in Bergen auch.«
»War ich?«
»Oh ja.«
»Und du nicht?«
»Ich, nein! Oh nein, mein Lieber.«
Er lachte. Drehte den Kopf und sah ein paar Leute an, die vorbeigingen. Drehte sich wieder um und ließ den Blick über die anderen Gäste des Cafés schweifen. Ich tippte mit der Spitze meiner Zigarette auf den Aschenbecher. Der von ihr aufsteigende Rauch wogte sachte im Luftzug der Türen, die sich laufend öffneten und wieder schlossen. Wenn ich ihn ansah, tat ich es mit fast unmerklich kurzen, verstohlenen Blicken. Der Eindruck, den er auf mich machte, war in gewisser Weise unabhängig von seinem Gesicht. Die Augen waren dunkel und traurig, aber er strahlte nichts Dunkles oder Trauriges aus. Er wirkte fröhlich, und scheu.
»Kennst du Stockholm?«, sagte er.
Ich schüttelte den Kopf.
»Nicht besonders. Ich bin nur einmal für ein paar Stunden hier gewesen.«
»Es ist eine schöne Stadt. Aber kalt wie Eis. Du kannst dein ganzes Leben hier verbringen, ohne zu irgendwem wirklich Kontakt zu bekommen. Alles ist darauf angelegt, dass man sich nicht berührt. Sieh dir nur die Rolltreppen an«, sagte er und nickte in Richtung der Halle, wo es vermutlich welche gab. »Rechts steht man, links geht man. Wenn ich nach Oslo komme, bin ich erschüttert, wie oft ich mit Leuten zusammenstoße. Ein einziges Stoßen und Rempeln. Dass man erst nach links, dann nach rechts, dann wieder nach links geht, wenn man jemandem auf der Straße im Weg steht, du weißt schon, das passiert hier einfach nicht. Jeder weiß, wo er zu gehen hat, jeder tut, was er tun muss. Am Flughafen gibt es vor dem Gepäckband eine gelbe Linie, die man nicht übertreten darf. Keiner übertritt sie. Die Gepäckausgabe geht ruhig und gesittet vonstatten. So sind auch alle Gespräche in diesem Land geregelt. Es gibt eine gelbe Linie, die keiner übertritt. Alle sind höflich, alle sind wohlerzogen, alle sagen,
was sie sagen sollen. Wichtig ist, dass man niemandem wehtut. Ist man daran gewöhnt, findet man es schockierend, die Zeitungsdebatten in Norwegen zu lesen. Was für ein Feuer! Die beschimpfen sich ja! Das ist hier völlig undenkbar. Und wenn sich mal ein
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