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Lieben: Roman (German Edition)

Lieben: Roman (German Edition)

Titel: Lieben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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Das Alte hatte hier keinen Platz. Trotzdem füllte es alles bis zur Neige.
    Was für ein grauenvoller Gedanke das war.
    Ich steckte eine Hand in die Tasche, um mich zu vergewissern,
dass die Schlüssel zu den Gepäckfächern noch darin lagen. Das taten sie. Dann klopfte ich mit der Hand auf die Brust, um zu überprüfen, dass meine Kreditkarte da war. Das war sie.
    Im Gewimmel vor mir tauchte ein bekanntes Gesicht auf. Mein Herz schlug schneller. Aber es war nicht Geir, es war jemand anderes. Ein noch entfernterer Bekannter. Ein Freund von einem Freund? Jemand, mit dem ich in die Schule gegangen war?
    Als es mir einfiel, musste ich schmunzeln. Es war der Mann aus dem Burger King. Er blieb stehen und blickte auf die Tafel mit den Abfahrtszeiten. Zwischen Zeigefinger und Daumen der Hand, die den Aktenkoffer trug, hielt er eine Fahrkarte. Als er die Uhrzeit darauf mit der auf der Anzeige vergleichen wollte, hob er den ganzen Koffer zum Gesicht.
    Ich schaute auf die Uhr an der Kopfwand der Halle. Zwei Minuten vor. Wenn Geir so pünktlich war, wie ich annahm, musste er jetzt irgendwo in der Halle sein, sodass ich den Blick systematischer über die zahlreichen näher kommenden Gestalten schweifen ließ. Erst auf der linken, dann auf der rechten Seite.
    Da.
    War das nicht Geir?
    Doch. Das war er. Als ich es sah, erinnerte ich mich wieder an sein Gesicht. Und er kam nicht nur auf mich zu, auch sein Blick war auf mich gerichtet.
    Ich lächelte, strich mir mit dem Handteller möglichst unauffällig über den Oberschenkel und streckte ihm die Hand entgegen, als er vor mir stehen blieb.
    »Hallo, Geir«, sagte ich. »Lange nicht gesehen.«
    Er lächelte ebenfalls und ließ meine Hand los, kaum dass er sie gedrückt hatte.
    »Das kann man wohl sagen«, erwiderte er. »Du hast dich kein bisschen verändert.«
    »Habe ich nicht?«, sagte ich.
    »Nein. Es ist, als würde ich dich in Bergen sehen. Groß, ernst, mit Mantel.«
    Er lachte.
    »Wollen wir gehen?«, sagte er. »Wo hast du dein Gepäck?«
    »Unten, in einem Schließfach«, sagte ich. »Wollen wir vielleicht erst noch einen Kaffee trinken?«
    »Können wir machen«, sagte er. »Wohin willst du gehen?«
    »Das spielt keine Rolle«, sagte ich. »Draußen am Eingang ist ein Café.«
    »Okay. Dann nehmen wir das.«
    Er ging vor, blieb an einem Tisch stehen, fragte, ohne mich anzusehen, ob ich Milch oder Zucker haben wolle, und ging zur Theke, während ich meinen Rucksack absetzte, mich niederließ und den Tabak herausholte. Ich sah ihn ein paar Worte mit der Bedienung wechseln, ihr einen Geldschein geben. Obwohl ich ihn wiedererkannt hatte und das unterbewusste Bild, das ich von ihm gehabt haben musste, folglich zutraf, war seine Ausstrahlung anders als erwartet. Sie war bei weitem nicht so physisch, es fehlte ihr fast völlig das körperliche Gewicht, das ich ihr zugesprochen hatte. Wahrscheinlich, weil ich wusste, dass er geboxt hatte.
    Ich empfand das dringende Bedürfnis zu schlafen, mich in ein leeres Zimmer zu legen, die Augen zu schließen und einfach aus der Welt zu verschwinden. Das war es, wonach ich mich sehnte; und was mich erwartete, Stunden geselliger Verpflichtungen und belangloser Gespräche, wirkte unerträglich.
    Ich seufzte. Das elektrische Licht an der Decke, das sich auf alle Dinge in der Halle legte, und an manchen Stellen von einer Glasscheibe, einem Metallstück, einer Marmorfliese oder einer Kaffeetasse reflektiert wurde, sollte ausreichen, um mich darüber zu freuen, dass ich hier war und es sah. Diese
mehreren hundert Menschen, die so schattenhaft kreuz und quer über den Boden der Halle trieben, sollten ausreichen, um mich zu freuen. Tonje, mit der ich acht Jahre zusammen gewesen war, um mein Leben mit ihr zu teilen, so schön, wie sie war, sollte mich freuen. Meinen Bruder Yngve und seine Kinder zu treffen, sollte mich freuen. Alle Musik, Literatur, Kunst, sollte mich freuen, freuen, freuen. Die gesamte Schönheit der Welt, die doch kaum auszuhalten sein sollte, ließ mich kalt. Meine Freunde ließen mich kalt. Mein Leben ließ mich kalt. So war es, und so war es schon so lange gewesen, dass ich es nicht länger ertrug, sondern beschlossen hatte, etwas dagegen zu unternehmen. Ich wollte mich wieder freuen. Das klang bescheuert, so etwas konnte ich niemandem sagen, aber so war es.
    Ich hob die halbgedrehte Zigarette an die Lippen und leckte den Leim an, presste ihn mit den Daumen so, dass er auf dem Papier haftete, knipste den losen Tabak an beiden

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