Lieben: Roman (German Edition)
halte, ist sie das.
»Ja«, sagte ich.
Unter uns wirbelte der Wind der näher kommenden Bahn eine Plastiktüte vom Bahnsteig hoch. Wie ein Tier mit Scheinwerfern als Augen tauchte sie am anderen Ende der Dunkelheit auf.
»Sie spielt in einer ganz anderen Liga«, sagte Geir. »Das war Weltklasse.«
Ich hatte bei ihrer Lesung nichts Besonderes empfunden. Vorher hatte ich mich allerdings über sie gewundert, eine kleine, korpulente und alte Frau, die mit einer Handtasche am Arm an der Bar trank.
»Das Schmetterlingstal ist ein Sonettkranz«, sagte ich und betrat den Bahnsteig, als der Zug gerade endgültig zum Stehen kam. »Das dürfte die anspruchsvollste Gedichtform von allen sein. Die ersten Zeilen aller Sonette sollen das letzte, abschließende Sonett bilden.
»Ja, das hat Hadle mir schon oft zu erklären versucht«, sagte Geir. »Aber ich vergesse es immer wieder.«
»Italo Calvino macht in Wenn ein Reisender in einer Winternacht etwas ganz Ähnliches«, erklärte ich. »Aber natürlich nicht so streng. Jeder Titel der Erzählungen bildet am Ende eine eigene kleine Erzählung. Hast du das Buch gelesen?«
Die Türen öffneten sich, wir gingen hinein und setzten uns auf gegenüberliegende Plätze.
»Calvino, Borges, Cortázar kannst du von mir aus alle behalten«, sagte er. »Ich mag das Fantastische nicht, und ich mag das Konstruierte nicht. Für mich zählen nur Menschen.«
»Und was ist mit Christensen?«, sagte ich. »Nach einer stärker konstruierenden Autorin wirst du lange suchen müssen. Was sie da treibt, ist doch streckenweise fast Mathematik.«
»Aber nicht das, was ich gehört habe«, entgegnete Geir, und als die Bahn sich in Bewegung setzte, blickte ich aus dem Fenster.
»Du hast ihre Stimme gehört«, sagte ich. »Sie überschreitet alle Zahlen und Systeme. Und bei Borges ist es genauso, jedenfalls in seinen besten Texten.«
»Nützt nichts«, sagte Geir.
»Du willst nicht?«
»Nein.«
»Na schön.«
Wir blieben eine Weile schweigend sitzen, gefangen in einer Stummheit, in die auch alle anderen Fahrgäste herabgesenkt schienen. Leere Blicke, reglose Körper, leicht vibrierende Wände und Böden.
»Bei einer Lyriklesung zu sein ist, als wäre man im Krankenhaus«, sagte er, als wir von der nächsten Haltestelle losfuhren. »Alles nur Neurosen.«
»Aber Christensen nicht?«
»Nein, genau, sage ich doch. Sie macht etwas anderes.«
»Hat die strenge Konstruktion, die du ja eigentlich ablehnst, das vielleicht ausbalanciert? Es objektiviert?«
»Gut möglich«, sagte er. »Aber wenn es sie nicht gegeben hätte, wäre der ganze Abend für die Katz gewesen.«
»Und diesen Typen, der eine Wohnung hat«, sagte ich. »Rataajaama hieß er, nicht?«
Am nächsten Morgen rief ich die Nummer an, die ich von Raattamaa bekommen hatte. Es meldete sich keiner. Ich rief den ganzen Tag und den ganzen nächsten Tag immer wieder an. Es meldete sich keiner. Er ging nie an den Apparat, so dass ich am dritten Tag zu einer anderen Veranstaltung ging, an der er teilnehmen sollte, ich saß in einer Bar auf der anderen Straßenseite, wartete, bis sie vorbei war, und ging zu ihm, als er herauskam. Er senkte den Blick, als er mich erkannte, es sei leider zu spät gewesen, die Wohnung gebe es nicht mehr. Durch Geir Gulliksens Vermittlung traf ich zwei Lektoren des Norstedts Verlags und ging mit ihnen essen. Sie gaben mir eine Liste von Autoren, mit denen ich mich in Verbindung setzen sollte – »es sind nicht unbedingt die besten, aber die nettesten« – und meinten, ich könne die nächsten zwei Wochen in der Gästewohnung des Verlags übernachten. Ich nahm das Angebot an, und während ich dort war, bekam ich eine positive Antwort von Joar Tiberg, von dem wir in Vagant ein längeres Gedicht abgedruckt hatten. Er kannte eine Frau bei der Zeitschrift Ordfront Magasin , sie würde für einen Monat verreisen, ich konnte in ihrer Wohnung schlafen.
Regelmäßig rief ich Tonje an und erzählte ihr, wie es mir ging und was ich machte, und sie erzählte, was bei ihr passierte. Die Frage, was wir da eigentlich trieben, stellte keiner von uns.
Ich fing an zu laufen. Und ich fing wieder an zu schreiben. Seit meinem ersten Roman waren bereits vier Jahre vergangen, und ich stand mit leeren Händen da. Während ich auf dem Wasserbett in dem betont weiblichen Zimmer lag, das
ich mir lieh, entschied ich mich für eine von zwei Möglichkeiten. Entweder fing ich an, über das Leben zu schreiben, wie es im Moment war,
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