Lieber Dylan
klingt schrecklich, aber ich war so wütend, als dein Vater starb. Es war, als hätte er uns im Stich gelassen, und ich fühlte mich so hilflos ohne ihn. Alles war ein solches Chaos, aber dann kam Tony, und er schien so fürsorglich und so stark …« Ich konnte nicht anders, als dabei sarkastisch aufzulachen. Mum hielt einen Moment inne, dann fuhr sie fort. »Er schien am Anfang wirklich fürsorglich. Ich wäre nicht mit ihm zusammengekommen, wenn es anders gewesen wäre. Und dann fing er an, Sachen über deinen Vater zu sagen – dass er nicht glauben könne, dass er auf sein Motorrad gestiegen war, nachdem er Drogen genommen hatte, und dass du und ich ihm offensichtlich egal waren. Ich habe ihm erlaubt, alles zu verdrehen.« Ungläubig schüttelte ich den Kopf. »Aber warum? Wie konntest du nur?« Sie seufzte. »Weil es leichter war, wenn ich mich dazu brachte, deinen Dad zu hassen. Es tat nicht mehr so weh. Aber als ich dich heute Abend gesehen habe …« Wieder brach sie ab. »Was war, als du mich gesehen hast?«, fragte ich. »Nun, es hat mich daran erinnert, dass Jeff ganz und gar kein schlechter Mensch war. Er war witzig und begabt und eine solche Naturgewalt. So wie du, Georgie. Genau wie du.«
Ich brauchte eine Weile, um das, was sie gesagt hatte, zu verarbeiten. Mein Vater war ein netter Mensch gewesen, und meine Mutter hatte ihn geliebt. Und sie liebte mich, oder jedenfalls hatte es den Anschein, als ob sie es tat. Ich packte ihre Hände. »Verlass ihn, Mum. Verlass Tony. Wir kommen schon zurecht, wir drei. Ich werde dir helfen. Ich suche mir einen Teilzeit-Job, ich werde …« Aber wieder zog sie ihre Hände aus meinen und wandte sich ab. »Wie kann ich ihn denn verlassen?«, rief sie. »Du verstehst das nicht. Er würde mich umbringen, wenn ich ihm Michaela wegnehmen würde, und ich kann sie nicht verlassen. Ich kann nicht mein kleines Mädchen verlassen.« Ich sah sie fest an. »Warum trägst du diese Sonnenbrille? Was ist heute Abend passiert? Was hat er gesagt, als du ihm erzählt hast, dass du hierherkommst? Was hat er gemacht?« Sie senkte den Kopf und sagte kein Wort. »Mum? Nimm die Sonnenbrille ab. Ich will dein Gesicht sehen.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe geweint, meine Augen sind …«
Ehe sie die Möglichkeit hatte, mich aufzuhalten, griff ich zu und zog ihr die Brille vom Gesicht. Ihre beiden Augen, ihre schönen, riesigen grauen Augen waren auf die Größe von Rosinen zusammengeschrumpft und von geschwollenen blauen Flecken umgeben. »Oh mein Gott, Mum! Was hat er dir angetan?« Unter der dicken entzündeten Haut sah sie mich an. »Verstehst du jetzt? Wie kann ich ihn verlassen, wenn er zu so etwas in der Lage ist?« Was sie gesagt hatte, schien vollkommen verdreht. Wie konnte sie bei ihm bleiben, wenn er zu so etwas in der Lage war? Ich rutschte ganz nah an sie heran und legte einen Arm um ihre schmalen Schultern. »Wir könnten flüchten«, schlug ich ihr vor. »Wir könnten in eins dieser Häuser von Refuge gehen – aus den Broschüren, die ich dir gegeben habe.« Mum schüttelte den Kopf und nahm mir die Sonnenbrille wieder weg. »Ich kann immer noch nicht glauben, dass du losgegangen bist und mit einer völlig Fremden über unsere Angelegenheiten geredet hast«, sagte sie. Ich runzelte die Stirn. Wie konnte sie anfangen, mich auszuschimpfen, wo ich doch nur versuchte, ihr zu helfen? »Es war keine Fremde, Mum, es war eine Freundin.« Sie setzte sich die Sonnenbrille wieder auf, und ich versuchte nicht, sie zu hindern. »Ich dachte, es war die Mutter von deiner Freundin«, erwiderte sie. Ich holte tief Luft und beschloss, ihr die Wahrheit zu sagen. »Ja, das habe ich aber nur gesagt, damit du dich besser fühlst. In Wirklichkeit war es eine Freundin von mir, aber sie ist selbst Mutter, und sie ist wirklich klug, und sie hat gerade ihren Mann verloren, also weißsie, wie es ist, jemanden zu verlieren, den man liebt. Du würdest sie wirklich mögen, Mum. Sie heißt Nan, und sie war früher Schauspielerin, und sie hat schon gesagt, dass sie uns gern helfen würde, also könnte sie vielleicht …«
Mum wandte mir das Gesicht zu und strich meinen Arm von ihrer Schulter. »Woher kennst du diese Person, Georgie?« Ihre Stimme war ernst wie die einer Nachrichtensprecherin. Ich zwang mich zu lächeln, damit sie sah, dass es keine große Sache war. »Wir haben uns im Internet kennengelernt. Es ist eine lange Geschichte, aber …«
»Im Internet? Oh mein
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